Lübeck. Es geht nicht. Noch spätabends habe ich gestern versucht, den Grenzverlauf in Krummesse auf die digitale Wanderkarte zu übertragen. Aber nach anderthalbstündigen Versuchen die Linie zu entwirren, zog sich der Knoten im Kopf immer fester. Der einzige Trost: Die Gemeinde ist mit ihrer kuriosen Teilung in lübschen und lauenburgischen Teil sogar ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen worden. Doch dazu später.
Los geht die Fortsetzung meiner Wanderung an diesem – super sonnigen – Morgen vom Dorfplatz in Blankensee. Dort ist die Stadtgrenze noch einfach zu lokalisieren. „Sie geht direkt hinter meinem Haus entlang“, sagt Landwirt Jürgen Bothmann, der gerade mit seinem Trecker um die Ecke biegt. Der 59-Jährige wohnt auf Lübecker Gebiet und muss erst überlegen, ob er sich zur Hansestadt oder zum Herzogtum Lauenburg zugehörig fühlt. „Zur Natur“, sagt er dann, „am liebsten bin ich nämlich im Wald, auf den Feldern und Wiesen – egal wozu die gehören.“
Für mich geht es an der Straße entlang Richtung Krummesse. Schöner wäre der Weg über die Felder, doch die A 20 kreuzt meinen Weg – und querfeldein kann ich da natürlich nicht hinüber. Mal auf Radwegen, mal am Straßenrand ist der Weg wenig aufregend, aber bequem. Leider schmerzt dafür heute irgendeine Sehne an der Wade. Ob ich damit morgen überhaupt weitergehen kann? Ich wollte doch eines Tages mal auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela pilgern. Dagegen ist diese Tour doch eigentlich nichts? Das macht es aber nicht leichter.
Über die wenig leichtfüßigen Gedanken bin ich vorbei am Klempauer Hofsee (direkt an der Grenze) und habe die rund sechs Kilometer bis nach Krummesse geschafft. Die Wander-App bleibt heute unbenutzt, weil es keine Tour zum Eintragen gab. Nun ruhen meine Hoffnungen auf den Menschen entlang des Beidendorfer Wegs. Aber jeder, den ich frage, winkt ab. „Die Stadtgrenze? Total kompliziert!“
Ich brauche also Hilfe. Wenn einer den Verlauf kennen muss, dann der Bürgermeister. Der wohnt im Ort und ist sogar zu Hause. „Ich habe nur bis mittags Zeit“, sagt Friedhelm Michaelis (62) am Telefon, „aber bis dahin kann ich Ihnen einiges zeigen.“ Los geht es schon an der Beidendorfer/Ecke Klempauer Straße. Das Haus dort habe seinem Schwiegervater gehört, und die Grenze ging mitten durch die Küche. „Da wurden die Spiegeleier in Lauenburg gebraten und in Lübeck verzehrt.“ Inzwischen ist das Haus verkauft und wird umgebaut, die Grenze aber bleibt.
Dass wir den Weg auf oder parallel zur Trennlinie fortsetzen, „das ist unmöglich“, sagt Michaelis. Seiner Vermutung nach kennt den Verlauf im Ort keiner auf den Meter genau. Man müsste wohl über Dächer und Zäune klettern, ein Maulwurf sein oder fliegen.
Verantwortlich für die seltsame Teilung soll Ritter Marquard von Crummesse gewesen sein. Diesem habe einst das Dorf und das heutige Gut Crummesse gehört, bis der lebenslustige Ahnherr um 1375 in Geldnot kam und Teile des Dorfes an Lübecker Handelsherren und Kaufleute verpfändete. „Ich habe gehört, dass die Grundstücke teilweise am Kartentisch verspielt worden sind“, sagt Michaelis.
200 Jahre später wollte der Herzog von Lauenburg seine Rechte auf Crummesse aufleben lassen, errichtete Zollschranken und entfachte einen langen Streit. Erst die Grenze, die beim „Möllner Prozess“
1747 gezogen wurde, beendete die Auseinandersetzungen. Ihr Verlauf zwischen Herzogtum und Stadtgebiet Lübeck gilt noch heute und bescherte den Eintrag ins Guinness-Buch.
Nicht allein die Teilung hat dem Ort vor 15 Jahren zum Rekord verholfen, sondern das Verhältnis der Gemeindefläche von rund 31 300 Quadratmetern zur Grenzlänge von etwa drei Kilometern. Gemessen hatte das Katasteramt Lübeck damals aber nicht den gesamten Verlauf, sondern nur den Bereich Niedernstraße und Lange Reihe. Dort verläuft die Grenze wie ein Zackenkamm – und bei den Nachbarn wechseln sich HL- und RZ-Autokennzeichen dicht an dicht ab.
Christiane von Zydowitz-Berdt (53) stört es nicht. „Das Dorf ist total schön. Es gibt eine gute Infrastruktur – und gleichzeitig ist man in ein paar Schritten total in der Natur“, sagt sie und führt Pferd „Sheela“ und Pony „Patent“ durch die Lange Reihe zum Elbe-Lübeck-Kanal hinunter. Während die Vierbeiner auf Lauenburger Boden grasen, stelzt auf der Lübecker Uferseite gegenüber ein Storch durchs Gras. Das Einzige, was die Pferdebesitzerin bemängelt, ist die Hundesteuer. Die sei für Lübecker um ein Vielfaches höher, sagt sie.
„Insgesamt profitieren wir aber von der Zwitterstellung“, meint der Bürgermeister und trifft sich mit Amtskollege Bernd Saxe aus der Hansestadt mehrmals im Jahr. „Die Zusammenarbeit könnte nicht besser sein.“ Michaelis erzählt noch Grenzgeschichten , von denen die Freiwillige Feuerwehr, das Pastorat und unzählige Nachbarn betroffen sind, dann muss er los. Aber nicht, ohne einen Tipp fürs Weitergehen zu geben. „Gehen Sie rüber zur Brömbsenmühle, die liegt direkt an der Grenze.“
Cosima Künzel