Innenstadt. Familie Tiffert wohnt seit zweieinhalb Jahren in der Wallstraße. Seit die Possehlbrücke gesperrt und nur noch in eine Richtung befahrbar ist, machen sich Dr. Alexander Tiffert und seine Frau große Sorgen um ihre beiden kleinen Kinder. „Wir sind ununterbrochen einer enormen Geruchs- und Schadstoffbelastung ausgesetzt“, schildert Tiffert die Lage. Die Wallstraße ist die Haupt-Ausweichstrecke für die Autofahrer. Morgens und vom Nachmittag bis in die Abendstunden würde sich der Verkehr in beide Richtungen stauen. Der junge Familienvater: „Wenn wir unsere Kinder in Krippe und Kita bringen, müssen wir an den Autos vorbei, da steht eine Abgaswolke über der Straße.“ Wenn die Familie lüftet, dringt der Abgasgestank bis in die Wohnung vor.
Anwohner der Wallstraße, die seit der Brückensperrung im März 2015 und noch voraussichtlich bis Mitte 2018 unter dem Zustand leiden, haben sich an die Politiker gewandt. Rolf Müller (FDP), Mitglied im Ausschuss für Umwelt, Sicherheit und Ordnung, beantragte im Mai dieses Jahres, dass Messungen zur Schadstoffbelastung vorgenommen werden sollten. Der gesamte Ausschuss stimmte zu. Umweltsenator Ludger Hinsen (CDU) schlug als Start der Messungen den September vor.
So kam es. Seit dem 28. September hängen vier Passivsammler in der Straße – drei auf der Seite der Wohnhäuser, einer auf der gegenüberliegenden Seite. Passivsammler sind Röhrchen, die ein Material enthalten, das Schadstoffe aus der Umgebungsluft sammelt. Barbara Schäfers, Mitarbeiterin der Lübecker Umweltbehörde, nennt die kleinen Gefäße Honiggläser. Einmal im Monat wechselt die Umweltbehörde die Röhrchen aus und schickt das Material ins Labor. Auftraggeber ist die Lufthygienische Überwachung des Kieler Umweltministeriums. Gemessen wird in der Wallstraße Stickstoffdioxid. Barbara Schäfers: „Das ist ein Parameter für Schadstoffe aus Autoabgasen.“ Die Honiggläser sollen ein Jahr lang hängen bleiben. Aus den monatlichen Messungen wird ein Jahresmittelwert errechnet. Der Grenzwert für Stickstoffdioxid liegt bei 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Außenluft. Selbst in der viel befahrenen Fackenburger Allee wird dieser Grenzwert nicht erreicht. Laut Luftüberwachung des Landes lag der Jahresmittelwert in der Fackenburger Allee bei 35 Mikrogramm.
Daneben ermitteln die amtlichen Luftüberwacher auch hohe Belastungen, die kurzzeitig entstehen. Die Grenze für den Einstunden-Mittelwert liegt bei 200 Mikrogramm pro Kubikmeter. Dieser Grenzwert darf an 18 Tagen überschritten werden. Ab dem 19. Mal liegt eine Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit vor. Solche präziseren Messungen können die Passivsammler in der Wallstraße gar nicht leisten. Dazu bedarf es größerer Messstationen wie an der Fackenburger oder der Moislinger Allee, die aktiv Außenluft ansaugen. Nach Angaben von Heike Mayer von der Lufthygienischen Überwachung gab es einen solchen Fall in Schleswig-Holstein bislang einmal – das war 2015 am Theodor-Heuss-Ring in Kiel, wo es zu 20 Überschreitungen kam. Mayer: „Dort fahren täglich rund 90000 Fahrzeuge.“ In der Fackenburger Allee wurden zuletzt mittags 90 Mikrogramm gemessen – also weit unter dem Einstunden-Mittelwert von 200 Mikrogramm.
In der südlichen Wallstraße zwischen Possehlstraße und Mühlendamm verkehrten vor der Sperrung der Possehlbrücke 14000 Kraftfahrzeuge am Tag, darunter 470 Lastwagen. Wie sich die 32600 Fahrzeuge, die früher täglich über die Possehlbrücke flossen, verteilen, weiß die Verwaltung nicht. Dazu soll es nach den Herbstferien Zählungen in der Geniner Straße, der Uhlandstraße und der südlichen Wallstraße geben. Sollte die Wallstraße extrem hohe Überschreitungen aufweisen und die Grenzwerte reißen, müssen Umweltministerium und die örtliche Straßenverkehrsbehörde Lösungen finden, „um den Zeitraum der Überschreitung kurz zu halten“, erläutert Heike Mayer. Luftreinhaltepläne, die verkehrslenkende Maßnahmen enthalten können, gibt es bislang nur für Kiel, Itzehoe und Ratzeburg und jeweils nur für einzelne Straßenabschnitte.
Betroffene Bürger wie Alexander Tiffert fragen sich, ob es nicht schnellere Lösungen gibt – beispielsweise die vorübergehende Öffnung der gesperrten Innenstadt für den Durchgangsverkehr.
Überwiegend gute Luft
In Schleswig-Holstein ist die Luft überwiegend gut. Das haben Schadstoffmessungen des vergangenen Jahres ergeben. Gemessen wurden Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid, Benzol und Feinstaub. Kritisch bleibt die Belastung laut Umweltministerium in Norderstedt (Ohechaussee) sowie in Kiel (Theodor- Heuss-Ring und Bahnhofstraße).
In Lübeck gibt es drei feste Messstationen in der Fackenburger Allee, der Moislinger Allee und in St. Jürgen. Die Lübecker Werte waren unauffällig.
Kai Dordowsky