Travemünde. Die Fototapete mit der Chorformation ist ein echter Hingucker: Feierlich gekleidet guckt die Festgesellschaft in die Kamera, und vor ihr steht in der Ecke des Travemünder Seebadmuseums ein großer, schmucker Kupfertopf. „Geburtstagsgabe des Bürgermeisters und Konsuls Hermann Fehling zum 50. Bestehen der Liedertafel 1893“, ist dort zu lesen.
„Ich bin nicht mehr in den Genuss gekommen, aus diesem Jubiläumsgeschenk Bowle trinken zu dürfen“, sagt Ralph Steinführer . „Im Gesellschaftshaus, wo wir als Passat Chor bis zum großen Umbau 2005 immer regelmäßig unsere Proben hatten, hing der Topf noch im ersten Stock wie eine Devotionalie neben einem Ölbrennofen an der Wand.“ Steinführer ist seit dem Jahr 2012 Vorsitzender der Travemünder Liedertafel, unter deren Dach sich drei Chöre tummeln: der Passat Chor unter der Leitung von Michael Cordes , De TraveMünder mit der Chorleiterin Margarita Priebe sowie der Gemischte Chor, der von Stephan Fleck geleitet wird.
„Das waren damals vor 175 Jahren noch ganz andere Zeiten“, schaut der 70-Jährige auf die Gründungszeit, als sich 23 Travemünder Herren entschlossen, den Gesangsverein aus der Taufe zu heben. „Schon drei Jahre nach dieser Gründung gab es neben den 30 aktiven Sangesbrüdern fast 80 passive Mitglieder, die einfach am Vereinsleben teilnehmen wollten“, berichtet der gebürtige Kieler.
„Die sind zum Teil zu Fuß aus Dummersdorf für die Probe gekommen“, weiß der erste Vorsitzende aus dem reichlichen Archivmaterial, „und die Proben gab es auch nur im Winter, weil im Sommer gearbeitet werden musste.“ Die Travemünder Liedertafel widmete sich aber neben der Pflege der Sangeskunst besonders auch sozialen Belangen. So gründeten die Sänger im Jahr 1848 den Gemeinnützigen Verein zu Travemünde, der unter anderem die Freiwillige Feuerwehr, die Sparkasse und viele soziale Projekte auf den Weg brachte.
Wie dann aus einer Sangesformation gleich drei geworden sind, ist eine teils vielschichtige Story, für die es aber auch eine Kurzfassung gibt. „So haben 1957 acht musikalische Damen, die – wenn man der Überlieferung glauben darf – keine Lust mehr hatten, an den Probenabenden ihrer Männer allein zuhause zu sitzen, einen reinen Frauenchor ins Leben gerufen“, so Steinführer. Dieser wurde dann, nachdem bereits einige Zeit mehrere Männer zur Erweiterung des Liedgutes mitsangen, im Jahr 1981 in „Gemischter Chor“ umbenannt.
Der Passat Chor wiederum bildete sich als „Abordnung“, als im Dezember 1976 eine Anfrage der Plattenfirma Polydor nach einem Shanty-Chor eintrudelte. „Sie wollten eine Platte zum 175. Jubiläum Travemündes als Seebad mit der ,Passat‘ als Werbeträger herausbringen. Und relativ kurzfristig übte eine Männerschar daraufhin zusätzlich mehrere Seemannslieder ein und benannte sich in ,Passat Chor‘
um“, erzählt Ralph Steinführer.
Schallplatte und Chor waren so erfolgreich, dass Polydor auch noch nach niederdeutschem Liedgut, nach „Danz op de Deel“ fragte. Folge: Auch hier fand sich eine Sangesgruppe, die sich schließlich in „De TraveMünder“ umtaufte. Nachwuchsprobleme haben alle drei, so der Liedertafel-Chef. „Vielleicht führt das Jubiläum den einen oder die andere zu uns“, hofft er.
Die Zeit der Liedertafeln
In den Jahrzehnten nach der französischen Besatzung ab 1814 entstanden in Deutschland zahlreiche Gesangsversammlungen, die Geselligkeit und Musik pflegten. Doch diesen Liedertafeln ging es zunehmend auch um die Idee eines liberalen, demokratischen und geeinten deutschen Staates, den sie in eigens verfassten Liedern zum Thema machten. Der Sängergruß „Grüß Gott mit hellem Klang, hell deutschem Wort und Sang“ eröffnet heute noch manche Chorprobe.
Michael Hollinde