Als die Sudeten den Maibaum nach Ratzeburg brachten

Margit Kindermann kann sich an das erste Maifest mit Maibaumaufstellung in Ratzeburg noch gut erinnern. Die langjährige Stadtführerin und ehemalige Ratsherrin war damals 17 Jahre alt, als der Baum 1950 erstmals die Kreisstadt schmückte. Dass nun ausgerechnet zum 70. Jahrestag dieses Traditionsfest ausfallen muss, macht sie traurig. Ähnlich geht es Uwe Schmidt, der als Vierjähriger beim ersten Maifest dabei war. „Für uns Sudetendeutsche war das damals eine große Sache“, erzählt Kindermann. Denn es war ein Fest, das sie aus ihrer Heimat mitgebracht hatten und in ihrer neuen Heimat feiern und so ihre Erinnerungen pflegen konnten. „Mein Vater Josef Gottschalk gehörte damals zu den Initiatoren“, erzählt Kindermann. Marktplatz war voll mit Menschen: Gemeinsam mit Josef Lehmann, Ferdinand Liebicher und Hans Kumpf, allesamt aus der Sudetenstraße in St. Georgsbergs sowie Rudolf Schmidt aus Einhaus, Rudolf Pfeffer und Eberhard Berndt sowie einem Herrn Sieker hätte er das Fest entwickelt. Sie gehörten alle zu den mehr als 100 Sudetendeutschen, die es nach dem Krieg in Ratzeburg gegeben habe. Und die seien in dieser Fremde eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen, zumal 1949 auch die Landsmannschaften von der Besatzungsmacht wieder zugelassen waren. „Mein Vater hatte als Schneider eine Werkstatt und da traf man sich dann regelmäßig“, erinnerst sich Kindermann. Bei solchen Treffen sei zunächst 1949 ein Nikolausfest organisiert worden und danach habe man sich an das Traditionsfest mit Maibaumaufstellung gemacht. Gebaut wurde der erste Maibaum in der Käse-Spanschachtel-Fabrik von Rudolf Schmidt, auf dem Gelände der Kaserne der heutigen Kaserne der Bundespolizei. „Und das erste Maifest war dann auch gleichzeitig das Kreistreffen der Sudetendeutschen“, sagt Kindermann. „Da war der Marktplatz vor dem Alten Kreishaus schwarz vor Menschen“, erinnert sich auch Uwe Schmidt, der das Spektakel als Vierjähriger miterlebte, beim Blick auf alte Fotos. Aus dem gesamten Kreis, aber auch aus Lübeck seien die Sudetendeutschen nach Ratzeburg gekommen. Große Feier in Wittlers Hotel: „Eine Aufgabe für uns Kinder war, auf der Farchauer Liegewiese Primeln zu pflücken und zu Sträußen zu binden“, erzählt Kindermann. Diese Sträuße seien dann für 30 Pfennige verkauft worden. „Es hatte ja niemand Geld und mit irgendetwas musste die Maifeier ja finanziert werden“, sagt Kindermann. Es wurde getanzt und Mailieder gesungen. „Eines kann ich noch heute auswendig“, sagt Kindermann. Nach der Zeremonie hätten die Sudetendeutschen dann in Wittlers Hotel mit einer Kapelle weitergefeiert. Nun treiben wir den Winter aus, den alten, kalten Krächzer; Wir jagen ihn zum Land hinaus, den Brummbär und den Ächzer, Und laden uns den Frühling ein, mit Blumen und mit Sonnenschein, Juhei! juhei, juhei!, komm herbei!, O Mai, o Mai! Das leere Stroh, das dürre Reis, und alles, was vermodert, Das geben wir dem Feuer preis, dass hoch die Flamme lodert, Und laden uns den Frühling ein, Mit Blumen und mit Sonnenschein; Juhei! juhei, juhei!, O komm herbei!, O Mai, o Mai! (Guido Görres, 1805-1852, deutscher Schriftsteller) Und während die Sudeten ihr traditionelles Fest feierten, kamen auch die Einheimischen Ratzeburger neugierig vorbei. „Die Bevölkerung in Schleswig-Holstein kannte so etwas ja überhaupt nicht“, sagt Kindermann. Und noch heute würde viele glauben, dass das Maibaumaufstellen aus Bayern stamme. „Aus Bayern kommt die Tradition der Zunftbäume, aber nicht die der Maibäume“, sagt Stadtführerin Kindermann. Siedlerjugend führt Tradition fort: Die Landsmannschaft der Sudetendeutschen sei aufgrund von Mitgliederschwund durch Arbeitsplatzwechsel und Wegzug dann später in der Landsmannschaft der Schlesier aufgegangen. Die Maibaumtradition habe jedoch weiterbestanden und die Feste seien später von der Siedlerjugend des Siedlerbundes organisiert worden – ein von den Sudetendeutschen initiierter Ortsverband in Ratzeburg. „Es ist natürlich nun schade, dass ausgerechnet zum 70-jährigen Bestehen des Feste, dieses nun ausfallen muss“, sagt Kindermann. Umso wichtiger sei ihr, das Gedenken an die Tradition aufrecht zu erhalten. Hier lesen Sie mehr: Maibaum-Tradition kam durch Sudetendeutsche nach Ratzeburg Ratzeburgs Mega-Maibaum Das LN Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Lübeck dienstags bis samstags gegen 7 Uhr im E-Mail-Postfach Von Holger Marohn

Maifeier - Als die Sudeten den Maibaum nach Ratzeburg brachten