Buchautor Jürgen Gückel stellte sich in Mölln Schülerfragen

Kriegsverbrechen, Gräueltaten und Schuld sind Themen, die nicht oft in der Vorweihnachtszeit behandelt werden. Die Klasse 10 b der Gemeinschaftsschule Mölln (GMS) hat sich aber in den vergangenen Monaten intensiv mit der deutschen Geschichte beschäftigt. Viele Fragen ergaben sich nach der Lektüre des Buches „Klassenfoto mit Massenmörder“. Autor Jürgen Gückel kam aus Peine nach Mölln, um die Fragen der Jugendlichen persönlich zu beantworten, die sie ihm in ausführlichen Briefen geschickt hatten. Eine intensive Woche haben die 25 Schüler der 10 b kurz vor den Weihnachtsferien absolviert. Nach der Auseinandersetzung mit Gückels Buch (LN berichteten) trafen sie sich mit drei jüdischen Jugendlichen, um mehr zu erfahren, wie es heute ist, als Jude in Deutschland zu leben. Klassen- und Geschichtslehrerin Karin-Sybill Kohrt hatte über die Initiative Likrat (siehe Info) des Zentralrates der Juden in Deutschland die Begegnung möglich gemacht. Vorab gab es Verunsicherungen: „Sprechen die fließend deutsch?“, lautete die Frage eines Schülers. Die drei jungen Männer, die von einer jüdischen Schule aus Hamburg nach Mölln kamen, sprechen fließend deutsch. Gut vorbereitet stellten sie der 10 b Besonderheiten ihres Glaubens vor und stellten sich den vielen neugierigen Fragen. „Geht Ihr auf Weihnachtsmärkte? Ist Homosexualität im jüdischen Glauben erlaubt?“, gehörten dazu. Aber auch die Frage nach Heimat. „Meine Heimat ist Deutschland“, sagte einer der jungen Männer. „Klassenfoto mit Massenmörder – Das Doppelleben des Artur Wilke“ von Jürgen Gückel ist in diesem Jahr nach jahrelanger, akribischer Recherche erschienen. In seiner eigenen Biografie ist der Autor auf Unfassbares gestoßen. Sein früherer Klassenlehrer hatte ein Doppelleben unter der Identität des im Krieg gefallenen Bruders geführt. Der ehemalige Theologe und Archäologe konnte seine Vergangenheit als SS-Mitglied, Partisanenjäger und Massenmörder durch Lügen und Täuschungen bis zu seiner Verhaftung während einer Schulstunde verbergen. Wilke wurde verurteilt, verneinte aber stets persönliche Schuld. In dem kleinen Ort, in dem er bis zu seinem Tod 1989 lebte, wurde über die Taten nicht gesprochen. Angst der jungen Juden beeindruckte die Möllner Schüler: Beeindruckend für die Schüler war, dass die jungen Juden sich aus Sorge vor Übergriffen nicht öffentlich zu ihrem Glauben bekennen, auf der Straße keine Kippa tragen und ihre Schule bewacht wird. Auch wollten sich nicht alle fotografieren lassen. Fast ein Drittel der Klasse 10 b fand sich auch bei der öffentlichen Autorenlesung ein. Gut 50 Zuhörer waren zu der Abendveranstaltung in die Möllner Stadtbücherei gekommen, um Jürgen Gückel zu hören. Volkshochschule und Stadt hatten die Lesung kurzfristig mit dem Autor organisieren können. In der sich anschließenden Gesprächsstunde waren teilweise erschütternde Beiträge zu hören, die Schuld und Verantwortung der Eltern- und Großelterngeneration thematisierten und die Frage nach deren Schweigen aufwarfen. Selbstkritisch ging es auch darum, dass man selbst von diesem Schweigen geprägt sei und es oftmals versäumt wurde, Fragen und Nachfragen an die Kriegsgeneration zu stellen. Das Schweigen der Kriegsgeneration: Sibylle Voß gehörte zu den Gästen der Lesung und nahm auch aktiv am Gespräch in der GSM mit der 10 b teil. Ihr Vater war damals Rektor der Schule, an der Artur Wilke unterrichtete und aus der er verhaftet wurde. Sie war Mitschülerin von Autor Jürgen Gückel. Der Kontakt lebte während der mehrjährigen Recherche zu Gückels Buch wieder auf. Auch Voß hat das Schweigen der Kriegsgeneration erfahren: „Ich bekam Antworten, spürte aber eine Schranke, dass ich nicht zu viele Fragen stellen sollte. Es gab wohl zu viele abscheuliche, grausame Taten, über die man nicht sprechen wollte. Das habe ich gespürt und wollte ihnen nicht wehtun.“ An die jungen Gäste gerichtet sagte der Buchautor: „Ich weiß, was Euch Eure Lehrerin mit dieser Lektüre zugemutet hat. Eure intensive Beschäftigung mit dem Buch rechtfertigt, dass ich es geschrieben habe. Damit ist für mich ein Traum in Erfüllung gegangen.“ Alle Schulen haben in jeder Altersklasse die Möglichkeit, jüdische Jugendliche einzuladen, um auf Augenhöhe über das Judentum zu sprechen. Das Angebot des Zentralrates der Juden in Deutschland soll helfen, gegen Antisemitismus vorzugehen und die jüdische Religion und Kultur zeitgemäß zu vermitteln. Verständnis und Toleranz für das Judentum und für Minderheiten sollen damit gestärkt werden. Das Wort „Likrat“ steht hebräisch für „auf einander zu“. Mehr Infos unter likrat.de „Seid nicht still, wenn Euch solche Themen auf den Tisch kommen“: Gute zwei Stunden nahm sich Jürgen Gückel am Folgetag für das Gespräch in der Klasse 10 b Zeit. „Ihre habt clevere Fragen gestellt“, meinte der Autor und Journalist zu den Briefen, die er von den Schülern erhalten hatte. „Ich hatte beim Schreiben auch die Hoffnung, dass junge Menschen daraus eine Haltung lernen können. Sprecht mit Euren Kindern und Enkelkindern weiter darüber und seid nicht still, wenn solche Themen auf den Tisch kommen. Schweigt nicht!“ Klassenlehrerin Karin-Sybill Kohrt ist gegen Ende des langen Projekts überzeugt: „Wir haben erkannt, dass wir nicht schweigen wollen und wachsam sind, wo wir aktiv einsteigen müssen. Die Schüler sind während des Projektes gereift.“ Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 10 b ließen sich zum Abschied ihre Bücher von Autor Jürgen Gückel signieren und bedankten sich für dessen Besuch in ihrer Schule. „Ihre Lesung gestern hat mich sehr mitgenommen, da werde ich noch einige Jahre dran denken“, sagte ein Jugendlicher und bat, den Autor zum Dank umarmen zu dürfen. Er durfte. Von Thomas Biller

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