Corona: Blick hinter die Kulissen des Gesundheitsamtes in Ratzeburg

Im Gesundheitsamt an der Ratzeburger Barlachstraße herrscht am Freitagmorgen hektische Betriebsamkeit. Erstmals seit Ausbruch der Pandemie ist es den Mitarbeitern nicht gelungen, alle Kontaktpersonen von neu mit dem Corona-Virus Infizierten („Index-Fälle“) noch am selben Abend zu kontaktieren. Und just heute soll ich ein „Praktikum“ im Gesundheitsamt absolvieren. Ich werde Silvia Schippmann zugeordnet. Die gelernte Krankenschwester ist eigentlich für Kitaförderung zuständig, hilft nun 30 Stunden in der Woche als „Wingbody“, als Unterstützerin den Gesundheitsaufsehern. Der Feind ist der Corona-Virus: Der Feind ist das Sars-CoV-2-Virus. Schippmann und die anderen Wingbodys ordnen Fälle ein und bereiten sie vor, damit sich die Gesundheitsaufseher auf die abschließende Entscheidung konzentrieren können. Auf dem Schreibtisch liegt ein Stapel mit Kontaktmeldungen und offenen Fragen. Was folgt, ist Recherche-Arbeit. Relativ einfach ist der Fall eines Projektleiters. Eines seiner Teammitglieder, mit dem er Tage zuvor eine Besprechung hatte, ist positiv-getestet. Am Telefon erfährt er nun, dass er für 14 Tage in Quarantäne muss. Anrufe mit unterdrückter Nummer: Frau und Kinder könnten sich als Kontaktpersonen zweiten Grades weiter frei bewegen. Nur habe er sich von seiner Familie für zwei Wochen fernzuhalten: weder gemeinsames Essen noch Fernsehgucken. Auch das Ergebnis des angeordneten Corona-Testes wird nichts ändern. Fällt der positiv aus, müsste die ganze Familie in Quarantäne. Schippmann und ihre Kollegen rufen grundsätzlich mit unterdrückter Nummer bei potenziellen Kontaktpersonen an. Anderenfalls könnten Rückrufe die Telefone des Gesundheitsamtes und die Arbeit der Kontaktermittler blockieren. Für Teile der Innenstädte von Schwarzenbek, Geesthacht und Wentorf bei Hamburg gilt ab sofort ein Betretungsverbot für Personen ohne Maske. Die Maßnahme ist Teil der neuen Allgemeinverfügung des Kreises. Nach 18 Neuinfektionen am Donnerstag und 16 Fällen am Freitag sind dem Kreisgesundheitsamt bis Sonnabendnachmittag (Stand 18 Uhr) mindestens 21 neue positive Laborbefunde mitgeteilt worden. Die Zahl der laborbestätigten Coronafälle im Kreis seit Ausbruch der Pandemie steigt damit am Sonnabend auf mindestens 493. Die Sieben-Tage-Inzidenz wird mit Ablauf des Sonnabends auf mindestens 43,4 steigen. Im nächsten Fall meldet sich ein junger Mann beim Gesundheitsamt, der Kontakt mit einem infizierten Fußballer hatte und befürchtet, in Quarantäne zu müssen. Am Telefon berichtet er von Schnupfen und möglicherweise einem „gefühlten“ Verlust des Geschmacksempfindens. Fußballer halten Gesundheitsamt in Atem: Mit Schippmann diskutiere ich, wie intensiv der Kontakt zwischen Infiziertem und Kontaktperson gewesen sein könnte. „Für uns gehört das zu den entscheidenden Fragen für die weitere Bewertung“, sagt sie. Der Mann hatte gemeinsam mit anderen Zuschauern die Fußballer abgeklatscht. Später war er drei bis vier Stunden in einer Kneipe, in der mindestens einer der später laborbestätigt-infizierten Fußballer ebenfalls war. „Ich habe sicher mit ihm auch gesprochen“, erklärt er beunruhigt. Das Ausbreitungsgeschehen rund um die Fußballmannschaft beschäftigt das Gesundheitsamt inzwischen intensiv. Die Lage ist so komplex, dass Gesundheitsaufseher Sandro Ulrich hinzugezogen wird. „Um einschätzen zu können, wie groß die Ansteckungswahrscheinlichkeit war, brauchen wir weitere Informationen zur Situation in der Kneipe“, sagt Ulrich. Es geht um die Größe des Raumes, das Hygienekonzept und dessen Umsetzung, Kontaktlisten und die Frage, wie viele der infizierten Sportler wann und wie lange dabei waren. Wenn die Corona-App anschlägt: Ulrich, der seit 6.30 Uhr im Dienst ist, beschäftigt seit viereinhalb Stunden ein anderer Fall. Bei einem Mann und seinen Kindern hat die Corona-App Alarm geschlagen: „sehr hohes Infektionsrisiko“. Wann und wo sich der Mann angesteckt haben könnte, teilt die App aus Datenschutzgründen nicht mit. „Wir betrachten alle Aufenthalte der letzten Tage, wo Vater und Kinder gemeinsam waren“, sagt Ulrich. Von diesem Zeitpunkt an müssten die Kontakte ermittelt werden. Und da als wahrscheinlichstes potenzielles Infektionsgeschehen eine Bahnfahrt aus dem Südeuropa-Urlaub vor mehr als einer Woche gilt, gibt es auch jede Menge Kontaktpersonen. Der Mann sei zwischenzeitlich mit vier anderen Kommunalpolitikern zu einer Sitzung gefahren. Und nach dem Sport habe er länger mit anderen an einem Tisch gesessen – vermutlich ohne Abstandsregeln. Jeder sollte Kontaktlisten führen: „Früher haben wir die Menschen direkt nach ihren Kontakten befragt“, sagt Ulrich. „Inzwischen geben wir ihnen eine Stunde Zeit, uns eine Liste per Mail zu schicken.“ Ein Kompromiss. Die Erfahrung sei, dass sich die Leute besser konzentrieren könnten, wenn sie den ersten Schock überwunden hätten. Andererseits zähle bei der Ermittlung aber auch jede Minute. Ulrich empfiehlt daher allen, sich längere Kontakte zu notieren. Bei Personen, wo die Corona-App Alarm schlägt, hat das Gesundheitsamt keine Handhabe für Maßnahmen. „Wir können nur Empfehlungen wie Kontaktbeschränkung aussprechen“, sagt Schippmann. Anders sehe es aus, wenn der Test positiv ausfalle. Normale Mittagspause macht keiner mehr: Trotz allem bringt Schippmann die Arbeit im Gesundheitsamt Spaß. Allerdings sei sie durch die hohe Anspannung und die regelmäßigen Überstunden am Ende des Tages völlig platt. „Natürlich leidet dabei auch meine eigentliche Aufgabe im Kitabereich“, räumt sie ein. An eine normale Mittagspause ist für die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes seit Wochen kaum zu denken. Wer Zeit findet, bedient sich an einer Platte mit belegten Brötchen und Obst. Dass sich Schippmann mit mir am Nachmittag kurz in den Innenhof setzt, ist eigentlich gar nicht möglich. Feierabend nach 13,5 Stunden – oder auch nicht: Für mich ist um 16 Uhr Feierabend. Nach sieben Stunden konzentriertem Zuhören dröhnt mein Kopf. Am Ausgang treffe ich Gesundheitsaufseher Sandro Ulrich. „Ich mache jetzt ’ne halbe Stunde Mittagspause“, sagt er. Es ist heute seine erste Auszeit. Und der Tag wird noch lang werden. Denn bevor nicht alle Indexfälle bearbeitet und die Kontaktpersonen ersten Grades ermittelt sind, geht kein Gesundheitsaufseher nach Hause. Für Ulrich war am Freitag gegen 20 Uhr nach 13,5 Stunden Schluss. Mit dem Notfallhandy und einem Tablet, mit denen er am Wochenende von zu Hause aus weiterarbeiten wird, verlässt er das Amt. Es sieht alles danach aus, dass sich aus dem Bereitschaftsdienst der vergangenen Wochenenden ein Regeldienst entwickeln könnte. Arbeit liegen zu lassen, kommt für die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes in der Pandemie nicht in Frage. Noch am frühen Abend überschreitet die Zahl der Neuinfektionen im Kreis die Warnschwelle. Von Holger Marohn