Demenz, Schlaganfall & Co.: Wo Pflegende selbst gepflegt werden

Vor neun Jahren bemerkte Brigitte S.* (78, *Name geändert) erste Auffälligkeiten an ihrem Mann Georg*. Erst tat sie es mit Alterstüdeligkeit ab, doch dann wurden die Defizite bei dem heute 82-Jährigen immer offensichtlicher. Nachts konnte sie kaum noch schlafen, weil sie befürchtete, Georg stehe auf und mache einen „Spaziergang“. Mehrmals musste sie ihn – auch mithilfe der Polizei – im Ort suchen, weil er nicht mehr nach Hause gefunden hatte. Nicht mehr zu verheimlichen: Anfangs gelang es Brigitte noch, diese „Aussetzer“ vor Freunden und Verwandten zu vertuschen. Die Kinder wohnen 300 Kilometer entfernt und kommen nur alle paar Monate zu Besuch. Doch bald ließ es sich nicht mehr verheimlichen. „Frau S. gehört der Nachkriegsgeneration an. In der wird es oft als Makel empfunden, wenn der Ehepartner verwirrt ist“, erzählt Dr. Verena Hilmer-Krywka, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie, die seit dem 1. Oktober 2018 die Ameos Rehakliniken in Ratzeburg leitet. Scham und Misstrauen gegenüber Dritten setzen diesen Frauen zu – die Mehrzahl der an Demenz Erkrankten sind Männer – und führt sie oft in soziale Isolation. Wie ein Teufelskreis sei das, sagt Hilmer-Krywka: „Viele haben Angst, dass ihnen der Partner weggenommen wird.“ Daher die Geheimnistuerei, mit der keinem geholfen sei. „Es ist wichtig, den Pflegenden die Scham zu nehmen. Dass sie kein Unrecht tun, wenn sie den Partner in die Tagespflege geben“, betont die Psychotherapeutin. Im Gegenteil: Allen sei damit geholfen. Früher „Alzheimer Therapiezentrum“: Seit knapp acht Jahren gibt es die Möglichkeit für Pflegende, die nach einer psychisch und physisch zehrenden Zeit der Betreuung ihres erkrankten Partners oder Kindes selbst Hilfe und Erholung brauchen, diese in Ratzeburg zu erhalten. Anfangs hieß die Einrichtung „Alzheimer Therapiezentrum“ der Röpersberg-Gruppe. Nach der Übernahme durch die Schweizer Ameos-Gruppe wurde es umbenannt in Reha Klinikum Ratzeburg, das nicht nur pflegende Angehörige von an Demenz Erkrankten betreut, sondern auch die von Schlaganfall-, Diabetes-, Querschnittslähmung-, MS- oder Parkinson-Patienten. „In der Regel stellt der Hausarzt, der seine Patienten kennt, einen Antrag für die Pflegeperson auf Reha“, erklärt Dr. Hilmer-Krywka. In der Umgebung seien die meisten Allgemeinärzte informiert. Bundesweit sei zudem Näheres zu erfahren über Krankenkassen oder Ärzteverbände. Genehmigung ist leichter geworden: Den Antrag auf Reha müssen die Krankenversicherungen genehmigen. „Aber das ist seit dem Pflegestärkungsgesetz Anfang 2019 besser und leichter geworden“, bestätigt die Ratzeburger Ameos-Sprecherin Marion Seigel. Die Reha selbst dauert in der Regel drei Wochen. „Wenn wir merken, dass das nicht reicht, versuchen wir, den Aufenthalt um zwei Wochen zu verlängern“, sagt Hilmer-Krywka. keine Kur mit Fango und Massage“, erklärt die Chefärztin. Viele seien anfangs enttäuscht, dass „nur“ geredet werde. Aber das sei das Hauptproblem: die Psyche. Die Ratzeburger Reha-Klinik verfolge ein multimodales Konzept, sprich: Die Rehabilitation besteht aus mehreren Komponenten, die ineinandergreifen und sich ergänzen. Einzel- und Gruppenpsychotherapie-Sitzungen gehören ebenso dazu wie Kunst- und Musiktherapie-Kurse, individuelle Ergotherapie, Sport- und Bewegungstherapie – sinnvollerweise wieder mit anderen Rehabilitanden zusammen. „Wir versuchen, die Gruppendynamik zu fördern“, sagt Hilmer-Krywka. Das geschehe durch gemeinsamen Sport, Spaziergänge oder Wochenendausflüge. Die Krankheit ist keine Schande: Die meisten Pflegenden hätten sich manchmal jahrelang isoliert, vor allem sozial. Hier sei es wichtig, wieder Zugang zu anderen, zu „Mit-Leidenden“ zu bekommen. So könnten sie erleben, dass sie nicht allein sind mit ihren Problemen. „Es gibt ganz viele, die dieselbe Last tragen. Und es ist keine Schande, dies nach außen zu tragen“, versichert die Fachärztin. 2012 war man in Ratzeburg mit zwölf Reha-Plätzen gestartet. Mittlerweile sind es 30 – und das ist das Besondere, was dem Projekt den Namen „Ratzeburger Modell“ bescherte – mit 26 Plätzen für die kranken Angehörigen, die Partner oder Kinder der eigentlichen Reha-Patienten. Diese werden – zur beiderseitigen Beruhigung – von ausgebildeten Pflegekräften betreut. „Sie wohnen quasi Tür an Tür, aber sind doch getrennt, was wichtig und notwendig ist“, erklärt Hilmer-Krywka. Denn man wolle den „Pflegerinnen“ oder „Pflegern“ vermitteln, dass sie sich auch nach der Reha Hilfe suchen sollen, um ihre schwere Aufgabe fortan nicht mehr allein tragen zu müssen. Die Demenz entmystifizieren: Ein wichtiger Aspekt sei die Schulung der Rehabilitanden über die Krankheit, meist ist es Demenz: „Was ist das für eine Krankheit? Wie muss man die Erkrankten verstehen oder behandeln?“, nennt Dr. Hilmer-Krywka die wichtigsten Fragen. Indem man erkläre, was die Krankheit bewirke, was und wie die Betroffenen fühlen, entmystifiziere man sie. „Wir wollen den Betreuern sagen: Ihr seid dafür nicht verantwortlich! Wir wollen ihnen mehr Selbstbewusstsein vermitteln.“ Das RND-Spezial rund um die Themen Impfungen, Gesundheit von Kindern, Bewegung, Erkrankungen des Herzens, Geburt, Pflege, Seelsorge und vielem mehr. Jeden Tag mit neuen, interessanten Artikeln. Klicken Sie hier, um zu unserer Themenseite „Familie & Gesundheit“ zu kommen! Die 30 Reha-Plätze sollen aufgestockt werden. „Der Bedarf ist da“, sagt Hilmer-Krywka. Das werde aber mit den Krankenkassen gemeinsam erarbeitet. Auf jeden Fall ist das „Ratzeburger Modell“ zukunftsträchtig – „leider“. Brigitte S.* fährt nach fünf Wochen sichtlich erholt nach Hause. „Ich habe viel gelernt – von den Ärzten, Pflegerinnen, aber auch den anderen Frauen und Männern, die ihre Partner pflegen“, sagt sie – und glaubt, mit den an sie gestellten Anforderungen künftig besser umgehen zu können. Ihr Georg* geht demnächst in die Tagespflege, einen Platz haben sie schon. Und dann wird hoffentlich alles etwas leichter. . . Von Joachim Strunk

Demenz, Schlaganfall & Co. - Pflege für die pflegenden Angehörigen