Die "Otto Hahn": Erinnerung an Deutschlands einziges Atomschiff

Diese Glocke hat fast die ganze Welt gesehen und legte dabei mehr als 1,2 Millionen Kilometer zurück: Im Helmholtz-Zentrum für Material- und Küstenforschung in Geesthacht wird ein wirklich einmaliges Erinnerungsstück aufbewahrt, nämlich die schwere Schiffsglocke der „Otto Hahn“. An ihr hängen eine Menge Erinnerungen. Atomkraft für den Antrieb: Alles begann vor 60 Jahren, also 1961. Damals galt die friedliche Nutzung der Atomkraft als Technologie der Zukunft. Und so geschah es, dass die damalige Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt (GKSS) mit Sitz in Geesthacht eine Ausschreibung für das erste nuklear angetriebene deutsche Handelsschiff vorlegte. Mehrere Angebote gingen ein. Im Jahr darauf entschied die GKKS, die Kieler Howaldtswerke mit dem Bau eines Erzfrachters zu beauftragen. 1964 war Stapellauf der noch ziemlich leeren Schiffshülle. Komplexe Technik: Es dauerte dann noch weitere vier Jahre, bis die komplexe Antriebstechnik eingebaut war – und zwar in Form eines Druckwasserreaktors. 1968 ging die schnittige, 172 Meter lange „Otto Hahn“ schließlich in Fahrt. Ihr Namensgeber war wenige Monate zuvor gestorben. Die Schiffsglocke war schon ein Jahr zuvor an Bord gekommen – was man an ihr heute noch an der Zahl 1967 ablesen kann. Frachter und Forschungsschiff: Zwar war die „Otto Hahn“ als Frachter konzipiert, zugleich aber auch als wichtiges Forschungsschiff. Mit ihm wollten die Wissenschaftler aus Geesthacht Erfahrungen für zukünftige Nuklearschiffsanlagen sammeln. Dies war schließlich erst das dritte atombetriebene Schiff weltweit. An Bord gab es Kabinen für bis zu 36 Forscher, einen Besprechungsraum, zwei Labore, zwei Salons sowie mehrere Empfangsräume für Repräsentationszwecke. 63 Mann Besatzung sorgten für den Alltagsbetrieb. Einfahrtverbot in manchen Häfen: Im Laufe der Jahre wurden immerhin 33 Häfen in 22 Staaten der Erde angelaufen. Aus Sicherheitsgründen verweigerten allerdings etliche Häfen dem Nuklearschiff die Einfahrt. Durch den Panama- und den Suezkanal durfte es ebenfalls nicht fahren. Die Skepsis gegenüber der Kernenergie begann damals, deutlich zu wachsen. Einstiger Stolz der deutschen Handelsflotte: Es kam dann, wie es kommen musste: Nach 650 000 Seemeilen, also 1,2 Millionen Kilometern, wurde das Schiff 1979 stillgelegt, der Reaktor ausgebaut. Das Schiff kam jedoch nach einer längeren Pause wieder in Fahrt, denn in Bremerhaven wurde der einstige Stolz der deutschen Handelsflotte zu einem Containerfrachter mit Dieselmotor umgebaut. Die ehemalige „Otto Hahn“ wechselte anschließend noch ein halbes Dutzend Mal den Namen und auch die Reederei und wurde schließlich vor elf Jahren im fernen Bangladesch abgewrackt. Otto Hahn (1879-1968), nach dem 1964 das erste und einzige deutsche Atomschiff benannt wurde, war Chemiker und einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Uran-Kernspaltung wurde ihm 1945 der Chemie-Nobelpreis verliehen. Seit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte Otto Hahn zu den schärfsten Kritikern der weltweit beginnenden nuklearen Aufrüstung, setzte sich aber zugleich für die friedliche Nutzung der Kernenergie ein. Deshalb war er durchaus erfreut, dass in Deutschland ein Schiff mit Atomreaktor nach ihm benannt wurde. Beim Stapellauf 1964 war er als Ehrengast dabei. Die Reaktoranlage der „Otto Hahn“ war im Zuge des Umbaus aus Dieselantrieb ausgebaut worden. Seit 1981 liegt der 480 Tonnen schwere Reaktordruckbehälter in Geesthacht auf dem Gelände des früheren Forschungszentrums GKSS unterirdisch in einem zylindrischen Betonschacht. Der Behälter, bei einem Durchmesser von sechs Metern 11,50 Meter lang, ist frei von Brennelementen. Das Material des Behälters strahlt überwiegend schwach- und mittelradioaktiv — vergleichbar mit dem Inhalt der maroden Atommüllfässer in Brunsbüttel. 2014 wurde entschieden, die für 2020 geplante Beseitigung der strahlenden Altlast vorzuziehen. Passiert ist seitdem nicht viel: „Der Reaktordruckbehälter ist immer noch in Geesthacht und derzeit Teil des Stilllegungsverfahrens“, lautet die Auskunft des Ministeriums für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung des Landes Schleswig-Holstein. Nur wenige Erinnerungsstücke: Viele Erinnerungsstücke der „Otto Hahn“ sind nicht mehr vorhanden. Neben der Glocke existiert in Geesthacht noch das frühere Bugwappen des Frachters, das zugleich das Geesthachter Stadtwappen war. Man findet es an einer Säule neben dem örtlichen Schwimmbad. Der einstige Schornstein steht auf dem Außengelände des Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven. Er wurde ohnehin nur beim seltenen Einsatz der Hilfsmaschinen benötigt. Auch der Maschinenleitstand der „Otto Hahn“ befindet sich im Deutschen Schifffahrtsmuseum. Ein Atomschiff wurde in Deutschland nie wieder gebaut. Von Norbert Dreessen