1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: Interview mit Rolf Verleger, Mitbgeründer der jüdischen Gemeinde Lübeck

Rolf Verleger ist Mitbegründer der jüdischen Gemeinde Lübeck und saß in deren Vorstand. Er lebt in Lübeck. 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – was sagt Ihnen das? Es gab ja nicht 1700 Jahre Kontinuität. Die jüdische Kultur auf deutschem Gebiet wurde mindestens zweimal jäh unterbrochen. Einmal während der Bauernkreuzzüge um das Jahr 1000, als arme Leute auf die Juden losgingen und etwa in Mainz, wo ein Viertel der Bevölkerung jüdisch war, die Juden vertrieben und ermordet wurden. Um 1300 gab man den Juden die Schuld an der Pest und verfolgte sie ebenfalls. Danach kann man eigentlich nicht mehr von einer relevanten jüdischen Kultur in Deutschland sprechen. Die meisten flüchteten nach Polen, das zur Heimat des Judentums im Abendland wurde. Bis etwa 1600, dann wanderten Juden wieder in die deutschen Gebiete ein, auch in die Umgebung von Lübeck. Die jüdische Gemeinde in Moisling etwa entstand in dieser Zeit. Auch meine eigenen Vorfahren kommen aus dem heutigen Polen. Wie ist die Situation für Juden heute in Deutschland? Gar nicht schlecht. Das Judentum war ja tot durch die Nazis vor der Zuwanderung aus dem Osten. Da gab es gerade mal noch 30 000 Juden in Westdeutschland und 8000 in der DDR. Sie waren überaltert, zumindest im Westen. Es war klar, dass es eine aussterbende Bevölkerung sein würde. Als ich 1988 nach Lübeck kam, gab es nicht mal mehr zehn Juden, um traditionelle Gebete abhalten zu können. Dann begann unter Bundeskanzler Helmut Kohl die jüdische Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion, sodass Anfang der Neunzigerjahre schon ein paar Hundert hier lebten. Zu Beginn des Jahrtausends hatte die jüdische Gemeinde Lübeck etwa 800 Mitglieder – und sie sprachen fast alle russisch. Rolf Verleger (69) hat die 2001 gegründete jüdische Gemeinde Lübeck mit aus der Taufe gehoben und war bis 2005 in deren Vorstand. Er war Vorsitzender des Landesverbands Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein und in den Jahren von 2005 bis 2009 Delegierter Schleswig-Holsteins im Zentralrat der Juden in Deutschland. Seine Eltern haben die nationalsozialistischen Konzentrationslager überlebt. 1951 in Ravensburg geboren, hat er bis 2017 als Psychologieprofessor am Uniklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck gearbeitet. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt „Haus der Ewigkeit: Der jüdische Friedhof Stockelsdorf“ (2019). Laut einer Studie des Jüdischen Weltkongresses von 2019 sind 28 Prozent der Deutschen antisemitisch. So ganz gut scheint es offenbar nicht zu sein. Andererseits habe ich in Lübeck in mehr als 30 Jahren persönlich so etwas nicht erlebt. Bis auf den Brandanschlag auf die Synagoge 1994 natürlich. Das war das einzige Mal, dass ich mich gefragt habe, ob ich in Deutschland richtig bin und nicht vielleicht doch hätte auswandern sollen wie meine beiden Geschwister. Aber der damalige Bürgermeister Michael Bouteiller und viele andere in Lübeck haben sich ja eindeutig positioniert. Das hat mich sehr beruhigt. Sie hätten keine Probleme, heute mit einer Kippa durch Lübeck zu gehen? Wenn es denn sein muss. Was bedeutet Ihnen Ihre Religion? Ich bin religiös aufgewachsen, das ist meine Heimat. Auch wenn ich mich jetzt nicht mehr daranhalte. Das ist so wie in einem Dorf. Wenn man dort aufgewachsen ist, kann man nicht immer bleiben, aber man kommt doch einmal im Jahr gerne zurück. Als der römische Kaiser Konstantin am 11. Dezember 321 n. Chr. festlegte, dass Juden Ämter in der Kölner Stadtverwaltung bekleiden dürfen, schrieb er Geschichte. Es ist der erste verbriefte Nachweis über die Existenz von Juden auf deutschem Boden und gilt als der älteste Beleg jüdischen Lebens in Europa nördlich der Alpen. Das Original des Edikts befindet sich im Vatikan. Das ganze Jahr 2021 über soll mit zahlreichen Veranstaltungen an das Jubiläum erinnert werden. Derzeit haben die 105 Gemeinden, die zum Zentralrat der Juden in Deutschland gehören, rund 96 000 Mitglieder. Info: www.jilid2021.de Sie haben sich mit 18 Jahren von der Orthodoxie verabschiedet. Warum? Mein Vater war seit fünf Jahren tot, mein Bruder ist aus dem Haus gegangen. Und es war 1968, da interessierten mich neue Götter wie Sigmund Freud und Wilhelm Reich. Da merkte ich, dass ich nicht mehr an Gott glaube. Ich habe das schon sehr ernst genommen. Ärger wegen Kritik an Israel: Sie leben heute nicht religiös? Nein, ich bin ja auch mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet. Trotzdem habe ich in Lübeck den Herrn Katz kennengelernt, der damals die Synagoge verwaltet und mich gebeten hat, in die Synagoge zu kommen. So haben wir dann mit ein paar Leuten die jüdische Gemeinde Lübeck wieder gegründet. Da habe ich mich ab etwa 1995 zehn Jahre lang engagiert, mit Gremiensitzungen zweimal die Woche und viel Arbeit. Bis ich dann Ärger bekam wegen meiner Kritik an Israel. Da wollte man mich nicht mehr als Vorsitzenden haben. Benjamin Gruszka – ein großer Lübecker Jude ist tot „Haus der Ewigkeit“: Bildband zu jüdischem Friedhof in Stockelsdorf Sie glauben nicht an Gott, gehen aber trotzdem manchmal in die Synagoge? Jetzt schon länger nicht mehr. Aber ich würde es tun, zum Neujahrsfest Rosch ha-Schana etwa oder am 9. November, wenn an das Judenpogrom von 1938 erinnert wird. Ich kenne ja auch noch viele in der Gemeinde. „Mein Sohn definiert sich als völlig unreligiös“: Sie haben Ihre Kinder auch nicht jüdisch erzogen und legen keinen Wert auf koscheres Essen? Jein. Um 1990, als sie beide etwa sechs Jahre alt waren, fing ich an, Pessach und das Lichterfest Chanukka zu Hause zu feiern. Mein Sohn definiert sich heute als völlig unreligiös, meine Tochter ist vor einigen Jahren in Berlin in die jüdische Gemeinde eingetreten. Im Alltag spielt die Religion für Sie also kaum eine Rolle? Wenn Sie meine Frau fragten, würde sie sagen, es sei schon schrecklich mit mir, ich käme davon nicht los. Da wird sie schon recht haben. „Es trifft mich, wenn ich als Antisemit bezeichnet werde“: Sie haben ein vehementes Interesse an Israel und kritisieren es auch häufig. 2016 gab es einen Aufruf, einen Vortrag von Ihnen zu verhindern, und zwar von einer „AG Gegen jeden Antisemitismus“. Wie sehr trifft Sie so etwas? Es häuft sich in den letzten Jahren. Und es trifft mich natürlich schon, wenn ich als Antisemit bezeichnet werde. Aber ich glaube, dass sehen die falsch. Die Auseinandersetzungen werden schärfer: Kann die jüdische Gemeinschaft schlecht mit Kritik umgehen? Ich denke, dass sich die Auseinandersetzungen verschärfen. Aber es gibt einige Vereine in Deutschland, die meinen Standpunkt vertreten. Und ich habe selbst das „Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“ gegründet, unter Anleitung von Rupert Neudeck, der wenig später starb. Da habe ich schon mein Zuhause. Und Sie werden sich auch weiterhin kritisch zu Israel äußern? Ja, bestimmt. Von Peter Intelmann