Corona: Ein Tag mit Lübecks Krisenmanager Jan Lindenau

Jan Lindenau ist in seinem Element. Die Idee, den Spuckschutz für den Tresen der Zentralbibliothek einfach von der Decke herabbaumeln zu lassen, kommt vom Bürgermeister – nicht von umstehenden Fachleuten. Der 40-jährige Verwaltungschef ist sich auch nicht zu schade, sich einen Zettel zu schnappen und die Maße für den Spuckschutz zu notieren. Auf dem Weg zum nächsten Termin telefoniert er schnell mit einem Handwerker und gibt den Auftrag heraus. Jeden Tag trifft er zehn bis 15 Entscheidungen: In Krisenzeiten sei der Bürgermeister gefragt, nicht die Politiker – haben die Unabhängigen neulich erklärt. Auch wenn Lindenau das Wort Krisenmanager nicht mag, so laufen doch alle Fäden bei ihm zusammen. „Ich treffe jeden Tag zehn bis 15 Entscheidungen“, sagt der Verwaltungschef, „sonst sind es zwei bis drei.“ Das Tempo sei deutlich höher, „aber das ist mein Job.“ Das LN Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Lübeck dienstags bis samstags gegen 7 Uhr im E-Mail-Postfach Ein schmuckloser Raum neben seinem Dienstzimmer, ausgestattet mit einem langen Tisch und mehreren Stühlen, ist die Kommandozentrale. Hier sitzt Lindenau mehrmals in der Woche am frühen Vormittag mit Oliver Groth, Bereichsleiter Bürgermeisterkanzlei, und seinem persönlichen Referenten Tim Klüssendorf zusammen, um die aktuelle Lage zu besprechen. „Was haben wir heute?“, fragt Lindenau. Es ist der Tag, nachdem die Bundeskanzlerin die ersten Corona-Lockerungen angekündigt hat. Die Friseure machen wieder auf, stellen die drei Männer erleichtert fest und streichen sich wie auf Kommando über mehr oder weniger volles Haupthaar. Im Briefing geht es um Hygiene in Schulen, den Bestand an Schutzausrüstungen, Soforthilfe für Honorarkräfte der Volkshochschule und die personelle Ausstattung des Gesundheitsamtes. „Wir haben von der Bundeswehr zwei Ärzte angefordert“, berichtet der Bürgermeister, „aber werden wir wohl nicht kriegen, weil Lübeck nicht zu den stark belasteten Gebieten gehört.“ Detailversessen war Lindenau schon als Politiker: „An 26 Schulstandorten werden Abschlussprüfungen stattfinden“, trägt Oliver Groth vor. Hygieneregeln könnten eingehalten werden. „Aber Handspender für Desinfektionsmittel in jeder Klasse – das geht nicht“, erklärt der Bereichsleiter, „die Lieferung, die uns von einem Hersteller zugesagt wurde, ist nie angekommen.“ Die Detailversessenheit, die Lindenau schon als Politiker an den Tag legte, kommt ihm jetzt zugute. Ebenso die Erfahrung aus seinen sieben Jahren beim Technischen Hilfswerk, wo er Teil eines Stabes war. Der Bankkaufmann ist kein Jurist. Für die schwierigen Passagen der Allgemeinverfügungen hat er seine Berater. Briefings und Telefonkonferenzen: Etwas mehr als eine Stunde dauert das „Morgenbriefing“. Lindenau ist seit 9 Uhr im Rathaus. Vor dem Briefing hat er Mails beantwortet und einige Telefonate geführt. Bis zur Telefonkonferenz mit dem Verwaltungsstab ist noch Zeit, um mit dem Geschäftsführer des Stadtverkehrs zu telefonieren. Lindenau erkundigt sich bei Andreas Ortz nach den Vorbereitungen für den Busverkehr, wenn die Geschäfte wieder öffnen. Jan Lindenau wurde 1979 in Lübeck geboren. Er stammt aus einfachen Verhältnissen. Der Vater war Postbeamter, die Mutter Näherin von Herrenbekleidung. Lindenau war Einzelkind, ging auf die Emanuel-Geibel- und später auf die Hanse-Schule, wo er seine Fachhochschulreife ablegte. Anschließend lernte er Bankkaufmann. Statt zur Bundeswehr ging er zum Technischen Hilfswerk (THW). Als Jugendlicher trat Lindenau in die SPD ein. 2011 kam er als Nachrücker in die Bürgerschaft, 2013 wurde er Vorsitzender der SPD-Fraktion, die er fünf Jahre lang leitete. 2017 wurde er vom SPD-Kreisparteitag zum Kandidaten für die Bürgermeister-Wahl gekürt, die er im November 2017 in einer Stichwahl gewann. Am 1. Mai 2018 übernahm er das Amt. Lindenau lebt mit seiner Familie in einem Reihenhaus, ist verheiratet und hat einen Sohn. Kurz vor der Telefonkonferenz meldet sich Lindenaus Sohn auf dem Handy. Aus dem Krisenmanager wird der Papa. Es geht um ein kaputtes Playmobil-Auto. Jetzt hat Corona mal kurz Pause. Seine Familie habe sich daran gewöhnt, ihn nicht so oft zu sehen, erzählt der 40-Jährige. „Elf bis zwölf Arbeitsstunden am Tag sind normal, jetzt sind es manchmal 16 Stunden“, rechnet Lindenau vor. Corona-Krise bedeutet Arbeitstage von bis zu 16 Stunden: Vor allem an Tagen, an denen das Land neue Erlasse schickt und die Stadtverwaltung daraus vor Mitternacht eine Allgemeinverfügung machen muss. „Dann kommt es vor, dass ich meinem Sohn per Handy gute Nacht sage“, erzählt der Verwaltungschef. Zu Beginn der Corona-Maßnahmen habe er jeden Morgen vor dem Gang ins Bad erst einmal zahlreiche Mails beantwortet. Karfreitag habe er dafür frei machen können – und auf der Terrasse Dutzende Facebook- und WhatsApp-Nachrichten bearbeitet. 11.55 Uhr, die Telefonkonferenz mit Senatoren, Führungskräften aus der Verwaltung, von Feuerwehr, Polizei und Gesundheitsamt startet. Das ist nicht öffentlich – die LN müssen bei den Gesprächen raus. Es sei um Großveranstaltungen, Schutzmasken, die aktuellen Corona-Fallzahlen und die Absage einer Demo gegangen, berichtet Lindenau hinterher. Über eine Stunde dauert die Konferenz. Referent Tim Klüssendorf geht zum Bäcker, holt belegte Brötchen. Das muss reichen in Corona-Zeiten. Mit Zollstock in der Zentralbibliothek: Um 14 Uhr geht es nach draußen. Termin in der Zentralbibliothek. Die soll wieder öffnen. „Das hat uns vollkommen überrascht“, sagt Bibliotheksleiter Bernd Hatscher. 1000 Kunden sind vor Corona täglich in das Haus in der Hundestraße gekommen. Lindenau befürchtet, dass zahlreiche Menschen gleich nach Wiedereröffnung kommen werden, um ausgeliehene Medien zurückzugeben und neue auszuleihen. Bernd Hatscher hat mit seinem Team einen Fünf-Stufenplan ausgearbeitet, der demnächst veröffentlicht wird. „Das Haus ist groß und unübersichtlich“, sagt der Bereichsleiter. „Wir stellen Markierungsstreifen und Bodenaufkleber zur Verfügung“, erklärt der Bürgermeister. „Wir brauchen für den Eingangsbereich ein Leitungssystem wie am Flughafen“, schlägt Oliver Groth vor. Und dann schreiten Lindenau und Groth die Strecken ab, die die Leseratten demnächst gehen sollen. Lindenau hantiert mit dem Zollstock und sagt Hatscher, dass die Bibliothek den schmucken Desinfektionsspender aus dem Rathaus bekommt. Etwas ungläubig hören die Bibliothekare, dass sie bei den Schutzmaßnahmen nicht sparen sollen. Irritiert von Entscheidungen des Landes: Zurück im Rathaus schaut sich Lindenau die Pressekonferenz des Ministerpräsidenten im Fernsehen an. Was das Land mit Großveranstaltungen und bei der Öffnung auch größerer Geschäfte vor hat, irritiert den Bürgermeister. Das will er in einer Videokonferenz ansprechen, an der die Regierung, etliche Landräte und Bürgermeister teilnehmen. Das ist vertraulich – Die LN müssen dazu den Raum verlassen. Nach zweieinhalb Stunden ist die Konferenz vorbei. Einen Erlass vom Land erwartet Lübecks Krisenmanager an diesem Tag nicht mehr. Er muss jetzt noch weitere Telefonkonferenzen am nächsten Tag vorbereiten – mit den Kita-Trägern und den Fraktionschefs aus der Bürgerschaft. Lindenau schwant, was vielen verantwortlichen Politikern dieser Tage klar wird: Das Öffnen wird schwieriger als das Schließen. Die LN-Themenseite mit allen Artikeln zum Thema Corona Coronavirus in und um Lübeck: Diese Texte sollten Sie gelesen haben Coronavirus in SH: Das ist die aktuelle Zahl der Infizierten Liveblog zur Corona-Krise: Das ist die Lage in Lübeck und Schleswig-Holstein Alle aktuellen Informationen aus Deutschland und der Welt im Live-Blog #supportyourlocal: Machen Sie Ihr Angebot bei uns bekannt #supportyourlocal: So helfen Sie Geschäften, Restaurants und Freiberuflern in Lübeck Endlich geht’s wieder los: Handel hofft auf gute Geschäfte im Norden Diese Regeln gelten ab Montag für die Geschäfte im Norden Krankschreibung nicht mehr am Telefon – von Notz: Unverantwortlich! Home-Office und Kinderbetreuung: Steigt jetzt die Burnout-Gefahr? 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