Corona in Lübeck: Gesundheitsamtschef Alexander Mischnik bilanziert Maskenpflicht und Infektionszahlen

Die Hansestadt ist bislang gut durch die Corona-Pandemie gekommen. Die Infektionszahlen sind nicht besonders hoch, es hat keine spektakulären Ausbrüche gegeben. Von Anfang waren nur Reiserückkehrer ein Thema. Warum ist das so, fragten die LN den Virologen und Epidemiologen Dr. Alexander Mischnik. Wie ist das aktuelle Corona-Infektionsgeschehen in Lübeck? Ruhig, aber nicht bei null. Wir haben einige Fälle, die wir aber gut kontrollieren können. Wie viele Lübeckerinnen und Lübecker sind derzeit in Quarantäne? Wir reden derzeit von mehr als 50 Personen. Wir hatten im Frühjahr deutlich mehr an einem Tag. Die LN-Themenseite mit allen Artikeln zum Thema Corona Coronavirus in SH: Das ist die aktuelle Zahl der Infizierten Das sind die Corona-Regeln in Schleswig-Holstein Familienfeier, Grillabend, Mund-Nasen-Schutz: Diese Corona-Regeln gelten aktuell in SH Abstand, Hygiene, Gästezahl: Das sind die Vorschriften für private Feiern Abstands- und Hygieneregeln in Schleswig-Holstein: So teuer sind Verstöße Das sind jetzt die Regeln für Restaurants und Gaststätten in Schleswig-Holstein Zum Nachfahren: Schöne Fahrradtouren rund um Lübeck Schutzmasken richtig tragen: So geht’s! Diese Maskentypen gibt es – und so werden sie richtig genutzt Wir haben ein halbes Jahr Corona. In Lübeck gibt es immer nur Fälle durch Reiserückkehrer. Keine Superspreader auf dem Drehbrückenplatz oder in der Vorderreihe. Lübeck hat über 40 Pflegeheime und keinen einzigen Hotspot. Woran liegt das? Bei uns funktioniert die Kontaktpersonenermittlung gut. Dafür arbeiten wir auch mittlerweile wieder täglich im Zweischichtbetrieb. Inklusive der Wochenenden. Besser als anderswo? Das ist schwer zu beurteilen. Wir haben sehr frühzeitig und konsequent versucht, die Infektionsketten aufzuspüren. Wir hatten in den ersten Monaten dafür viel Personal zur Verfügung. Im Vergleich zu anderen Teilen Deutschlands haben wir erfreulicherweise ein geringeres Infektionsgeschehen. Woran liegt das? Lübeck ist ja kein Dorf. Im Norden gibt es allgemein weniger Infektionsgeschehen. Bei anderen Erkrankungen sehen wir, dass sie sich vom Süden in den Norden ausbreiten – beispielsweise bei der Influenza. Wenn die Fallzahlen weiter steigen, wird man dies vermutlich im Süden früher feststellen als bei uns. Keine Hotspots in Altenheimen: Trotzdem erstaunlich, dass wir keine Hotspots in Altenheimen haben - bei über 40 Einrichtungen. Tatsächlich hatten wir noch keinen Ausbruch in einem Pflegeheim. Bereits bei mehr als zwei Fällen, die in einem Zusammenhang stehen, kann man von Ausbruch sprechen. Ist das Zufall oder Glück? Vielleicht ist Glück dabei. Wir haben aber auch viel Zeit und Personal in die Ermittlung von Infektionsketten und Aufklärung der Bevölkerung gesteckt. Dies trägt sicher dazu bei. Sind Sie mit den eingereichten Hygienekonzepten besonders streng? Wir haben nur einen überschaubaren Handlungsspielraum. Wir haben, wenn es zum Beispiel um Chöre oder Fußballspiele geht, Vorgaben vom Land, über die wir uns nicht hinwegsetzen können. Wir prüfen die Hygienekonzepte mit Augenmaß, aber nicht jedes Konzept wird durchgewinkt. Die Prüfung von Hygienekonzepten erfordert viel Zeit und nimmt mit der Zeit eher zu, da es komplexere Anfragen gibt. Nicht zu wenig Tests in Lübeck: Wird in Lübeck vielleicht einfach weniger getestet als anderswo? Sicherlich nicht. Wir haben zwei Stationen, die die Kassenärztliche Vereinigung betreibt. Eine in der Von-Morgen-Straße und eine in Travemünde. Unser Personal macht ebenfalls sehr viele Tests. Genauso testen viele niedergelassene Ärzte. Das Land hat vor kurzem Zahlen über Tests veröffentlicht. Wie viele waren es in Lübeck? Zum Stichtag 25. August sind 44 100 Sars-Cov-2-Tests in Schleswig-Holstein kumulativ durchgeführt worden. Die Positivenrate lag mit einem Prozent sogar über dem derzeitigen Bundesdurchschnitt. Eigene Zahlen für Lübeck sind nicht vorhanden und im Übrigen auch schwer zu vergleichen. Die Tests erfolgen in unterschiedlichen Laboren und werden zum Teil auch in Hamburg untersucht. Aussteigekarten für Reiserückkehrer: Die Reiserückkehrer, die in Risikogebieten waren, müssen Aussteigekarten ausfüllen. Was ist das genau und wie viele liegen Ihnen davon vor? Reisende, die über Flughäfen oder Bus und Bahn zurückkommen, geben ihre Daten an. Wir würden uns wünschen, dass das digital erfolgen könnte, leider läuft es bislang analog. Wir erhalten auch nicht täglich eine ähnliche Zahl an Karten, sondern an manchen Tagen nichts, an anderen dicke Briefumschläge. Die Gesamtzahl der erhaltenen Aussteigekarten liegt im hohen dreistelligen Bereich. Wenn ich mit der Bahn aus dem Urlaub nach Lübeck zurückkomme, fülle ich eine Aussteigekarte aus? Ja, das geht auch handschriftlich und noch nicht elektronisch. Leider kontrollieren viele Unternehmen nicht, ob die Daten, die Sie angeben, korrekt oder leserlich sind. Die Karte bekomme ich vom Schaffner? Ja. Oder Sie laden sich die Karte aus dem Internet herunter. Sie können die Karte am Bahnhof oder Flughafen abgeben. Die Stellen leiten es an uns weiter. Bei uns sind mehr als 650 Reiserückkehrer registriert, die wir alle kontaktieren müssen. Täglich waren dies bis zu 55 Fälle in der Spitze. Was machen Sie mit den Karten? Wir prüfen, ob jemand sich in einem Risikogebiet aufgehalten hat und ob ein verpflichtender Test gemacht wurde. Wir informieren die Person über die Quarantänepflicht und weisen auf den zweiten Test hin. Erst bei Vorliegen eines zweiten negativen Tests nach Rückkehr aus einem Risikogebiet wird durch uns die Quarantäne aufgehoben. Meldepflicht für Rückkehr aus Risikogebiet: Wer nicht aus einem Risikogebiet zurückkommt, muss sich nicht bei Ihnen melden und keine Aussteigekarte ausfüllen? Genauso ist es. Es besteht eine freiwillige Möglichkeit, sich bei uns zu melden. Urlauber müssen jeden Tag beim Robert-Koch-Institut gucken, ob Sie in einem Risikogebiet unterwegs sind? Das liegt in der Verantwortung der Reisenden. Das machen auch viele Menschen. Viele kennen das Thema, aber die Lage ist ständig im Fluss. Die Kanaren sind jetzt beispielsweise auch Risikogebiet. Wenn solche beliebten Reiseziele zum Risikogebiet erklärt werden, beeinflusst dies unsere Arbeit stark. Die Reisenden müssen sich bei uns melden und die Karten ausfüllen. Wichtig ist, dass das Ausfüllen der Karten die Meldung bei uns nicht ersetzt. Diese muss weiterhin erfolgen. Dazu hat es leider missverständliche Informationen gegeben. Wo würden Sie privat nicht hinreisen? Wir sehen viele Infektionsfälle im südöstlichen Europa, Kroatien, die Länder rund um die Adria, Spanien. Momentan bleiben nicht so viele Länder übrig, in die man guten Gewissens reisen kann. Alles, was Lübeck voranbringt: Jeden Montag gegen 18 Uhr in Ihrem E-Mail-Postfach. Hier kostenlos den Newsletter „Lübeck next“ bestellen! Attestflut nach den Sommerferien: Als die Schule nach den Sommerferien wieder anfing, hat das Gesundheitsamt über eine Attestflut geklagt. Was genau meinten Sie damit? In der Anfangszeit forderte der sogenannte Schnupfenplan des Landes, dass ein Schüler oder ein Kita-Kind bei leichten Symptomen ihre Einrichtungen nicht besuchen durften. Viele Einrichtungen haben dann Atteste von den Familien gefordert, so dass die Kinderarztpraxen voll waren. Nicht zu vergessen: auch betreuende Elternteile brauchen Atteste für ihren Arbeitgeber, wenn sie die Kinder zu Hause betreuen müssen. Das ist erfreulicherweise – auch auf unsere Initiative hin – auf Landesebene geändert worden. Seit 26. August gilt ein Schnupfenplan, der leichte Symptome nicht als Ausschlussgrund definiert. Wir halten die Anpassung angemessen und die Regelung ist mittlerweile fast identisch mit Hessen oder Baden-Württemberg, wo wir wohlgemerkt eine höhere Inzidenz haben. Die Eltern müssen das beurteilen? Ja, die Eltern und die Schule oder die Kita müssen das bewerten. Nicht jedes Kind muss automatisch zum Arzt gehen. Familien können auch telefonisch Atteste bekommen, wenn der Kinderarzt entscheidet, dass er das Kind nicht sehen muss. Die Lage hat sich entspannt. Infektionsgefahr im Schulbus: Was halten Sie von einer Maskenpflicht in der Schule? Kinder unter zehn Jahren können das Virus übertragen, spielen aber im gesamten Infektionsgeschehen vermutlich eine untergeordnete Rolle als ältere Kinder. Ich halte die Maskenpflicht in dieser Altersgruppe nicht für erforderlich. Auf Wegen und Schulhöfen ist die Maske generell sinnvoll und nötig, im Unterricht nicht. Im Schulbus sitzen Kinder dicht zusammen. Können die sich infizieren? Definitiv, wenn ein Infizierter dabei ist. Was wäre die Lösung? Das beste Hygienekonzept nützt nichts, wenn alle Kinder gleichzeitig im Schulbus sitzen. Hier besteht eine Infektionsgefahr durch die räumliche Nähe. Auch wenn sie Maske tragen? Jede Maske reduziert die Menge an Aerosolen, die wir ausscheiden. Aber es ist richtig, die Schülerbeförderung zu entzerren. Strand-Ampel war hilfreich: Die Urlauber sind alle wieder abgereist. Ich habe von keinen Ausbrüchen gehört. Der Müll am Strand war das größere Thema. Brauchen wir Abstand am Strand und Strand-Ampeln? Ich finde Apps und Strand-Ampeln sehr hilfreich. Es war im Frühjahr einfach nicht klar, wie sich die Lage entwickeln würde. Wir sind im Bereich Tourismus mit einem blauen Auge davongekommen. Wie viele Mitarbeiter sind aktuell im Gesundheitsamt mit Corona beschäftigt? Wir haben personell wieder aufstocken müssen, weil viel Arbeit anfällt, die in der Öffentlichkeit manchmal nicht wahrgenommen wird. Wir arbeiten wieder im Zweischicht-Betrieb, auch an Wochenenden. Derzeit sind mindestens 25 Personen im Corona-Team. Am Anfang waren es 50. Noch vor wenigen Wochen war es knapp die Hälfte. Welche Teststrategie empfehlen Sie? Eine universelle Testung ist nicht zielführend. Viele Labore sind an der Belastungsgrenze. Die Zahl der Positiven liegt bei den derzeit durchgeführten Tests bundesweit bei unter einem Prozent. Eine symptom- und sogenannte clusterorientierte Testung wird von uns favorisiert. Wünschenswert wäre eine Anpassung der Teststrategie. Infektionszahlen könnten im Herbst steigen: Rechnen Sie im Herbst mit einer zweiten Welle? Es ist anzunehmen, dass die Infektionszahlen durch den Aufenthalt in Innenräumen ansteigen werden. Private Feiern oder berufliche Besprechungen in größerem Rahmen können Motor der Ausbreitung sein. 230 positive Fälle in sechs Monaten in Lübeck bei 220 000 Einwohnern: Wird Corona übertrieben? Momentan ist das Infektionsgeschehen ruhig und gut kontrollierbar. Aber sobald wir uns an gewisse Regeln nicht mehr halten, kann es gefährlich werden. Wir müssen wachsam sein. Jeder, der sich an Regeln hält, große Versammlungen vermeidet und im Kontakt mit Risikopersonen umsichtig ist, trägt dazu bei, dass es in Lübeck so bleibt. Wann rechnen Sie mit einem Impfstoff? Meine persönliche Einschätzung lautet: frühestens Anfang 2021. Dann beginnt die Diskussion über die Verteilung. Klar ist, dass wir Anfang oder Mitte 2021 keinen Impfstoff für die gesamte Bevölkerung haben werden. Die Ständige Impfkommission am Robert Koch Institut (Stiko) wird die Verteilung an Risikogruppen oder besondere Gruppen priorisieren. Von Kai Dordowsky