Darum geben Bürger der Fahrradstadt Lübeck miese Noten

1238 Lübeckerinnen und Lübecker haben der selbst ernannten Fahrradstadt Lübeck ein vernichtendes Schulzeugnis ausgestellt. Im gerade veröffentlichten Fahrradklimatest hagelt es Fünfen und Sechsen für die Hansestadt. Zählt man die Fünfen und Sechsen im Zeugnis zusammen, ergibt das folgende Feststellungen: Für 78 Prozent der Umfrageteilnehmer sind die Radwege holprig und in einem schlechten Zustand. 73 Prozent erklären, dass sie auf Radwegen und den Radfahrstreifen auf den Fahrbahnen nicht sicher unterwegs sein können. 84 Prozent erklären, dass die Radwege zu schmal seien. 81 Prozent sagen, dass die Stadt in der Corona-Pandemie nichts für die Radfahrer getan habe. Fahrradstadt Lübeck stürzt in die Abstiegszone ab: Zu schmale Radwege, holperige Pisten und die unzureichende Radwegeführung an Baustellen nervt die Lübecker seit Jahren. Die neue Umfrage zeigt: Es wird nicht besser, sondern im Urteil der Bürger immer mieser. Die Gesamtnote 4,09 von 2018 verschlechterte sich auf aktuell 4,30. „2018 nahm Lübeck immerhin noch einen Mittelfeldplatz unter den Städten der gleichen Größenkategorie ein“, sagt Wolfgang Raabe, Vorsitzender des Lübecker Fahrradclubs ADFC, „2020 stürzte unsere Stadt um neun Tabellenplätze ab und findet sich jetzt mit Rang 22 von 26 Städten mitten in der Abstiegszone wieder.“ „Woher kommt diese harte Kritik?“, fragt sich der ADFC-Vorsitzende. Die Hansestadt sei Mitglied in einem Verband der fahrradfreundlichen Städte geworden, wolle einen Radschnellweg und die seit Jahren diskutierte Stadtgrabenbrücke bauen, und es werde sogar intensiv an einem Fahrradparkdeck am Hauptbahnhof gearbeitet. Die Bauverwaltung wurde personell aufgestockt, um die Radwegesanierung voranzutreiben. Im vergangenen Oktober rechnete der SPD-Verkehrspolitiker Ulrich Pluschkell vor, wie viel mehr Geld es von der Stadt für den Radverkehr gibt: „2018 hat es lediglich 650 000 Euro gegeben, 2020 sind es 2,5 Millionen Euro – und ab 2021 werden es vier Millionen Euro sein.“ Dass sich diese Leistungen nicht in besseren Schulnoten niederschlägt, findet der ADFC zutiefst beunruhigend. Eine mögliche Erklärung, so Raabe: „Bislang sind dies in Lübeck nur Ankündigungen, die seit längerer Zeit immer wieder formuliert, aber nicht umgesetzt werden.“ 2020 seien gerade einmal 400 Meter Radwege verbreitert worden. Bei dem Tempo werden die 200 Kilometer Radwege in Lübeck erst im Jahr 2500 auf dem Stand der Technik sein, sagt Wolfgang Raabe. Beckergrube war zeitweise Unfallschwerpunkt: Als „einzigen, wirklich geglückten Fortschritt im Jahr 2020“ bezeichnet der ADFC den Verkehrsversuch in der Beckergrube. Allerdings gibt es einen Wermutstropfen: Der aktuelle Verkehrssicherheitsbericht der Polizei für 2020 bewertet die Beckergrube als Schwerpunkt. Mit sechs Radfahrunfällen lag die Beckergrube noch vor dem Lindenplatz, bis die Verkehrsführung nachgebessert wurde. Mehr Platz für Fahrräder in der Innenstadt: Derzeit werden 46 neue Fahrradbügel in der Innenstadt aufgestellt, an denen 86 Fahrräder parken können. Ganz neu sind zwei Standorte zum Parken von Lastenrädern. Die Verwaltung hat dafür extra spezielle Fahrradbügel entworfen, die von einer Lübecker Firma angefertigt wurden. Die neuen Stellplätze für Lastenräder sind in der Königstraße Höhe Nummer 25 und in der Mühlenstraße Höhe Nummer 5 zu finden. Dafür entfallen 14 Kfz-Parkplätze. Drei davon beispielsweise in der oberen Glockengießerstraße. Eine Lübecker Baufirma installiert die Fahrradbügel in der Wahmstraße, Hüxstraße, Große Burgstraße, Fleischhauerstraße, Engelsgrube, Kanalstraße, St.-Annen-Straße, Aegidienstraße, Pferdemarkt, Neue Querstraße und Große Altefähre und Glockengießerstraße. Die Kosten betragen rund 25 000 Euro. Lübecks Radwege seien überwiegend ungepflegt und würden zu 95 Prozent die Breitenvorgaben der technischen Regelwerke verfehlen. Die Radstreifen auf den Straßen hätten einen zu geringen Sicherheitsabstand zu geparkten Kraftfahrzeugen und würden häufig von Autofahrern als Parkfläche genutzt. Polizei und Ordnungsamt würden dagegen zu wenig unternehmen, kritisiert der ADFC-Vorsitzende. Lesen Sie auch Corona: Lübecks Bürgermeister will wieder mehr Veranstaltungen zulassen Corona: Saarland beendet Lockdown nach Ostern Corona – RKI-Zahlen heute: 22.657 Neuinfektionen, Inzidenzwert 113,3 Bei der Einrichtung von Baustellen würde auch die personell aufgestockte Verwaltung immer noch groteske Planungsfehler begehen. Unvergessen ist die Umleitung der Radfahrer in der Neuen Hafenstraße. Verwirrend sei aktuell die Umleitung des Radverkehrs an der Bahnhofsbrücke, so der Fahrradclub. Raabes Fazit: „Unvermindert wird der Umbau Lübecks zur autogerechten Stadt vorangetrieben.“ Verwaltung braucht Zeit für Planungen: Die Linken bezeichnen die Lage des Radverkehrs in Lübeck sogar als Katastrophe. Und kennen auch den Schuldigen. „Immer wieder hat die GroKo aus SPD und CDU Anträge von der Linken und anderen oppositionellen Fraktionen abgelehnt, die die Situation des Radverkehrs in Lübeck verbessern sollten“, wettert Fraktionchefin Katjana Zunft. „Immer wieder wurde behauptet, die Situation wäre gar nicht so schlecht, wie es die Opposition sagt. Nun haben wir es schwarz auf weiß, Lübeck muss endlich was tun.“ Auch die GAL kritisiert, dass die GroKo beispielsweise seit Monaten eine Pop-up-Lane an der Ratzeburger Allee verhindere. Eine LN-Anfrage an die Bauverwaltung zu den miesen Noten blieb unbeantwortet. Im Februar 2020 schrieb die Bauverwaltung auf eine Anfrage des Grünen-Politikers Axel Flasbarth: „Viele Radwege sind im Bestand schmaler als das Mindestmaß von zwei Metern. Eine Verbreiterung zu Lasten der angrenzenden Gehwege oder Fahrbahnen ist derzeit nicht möglich, denn grundsätzliche Neuaufteilungen des Verkehrsraumes bedürfen eines Planungsvorlaufes. Entsprechende Planungen müssen zunächst erarbeitet werden.“ Von Kai Dordowsky