Festivals abgesagt: Psychologe gibt Tipps gegen einsamkeit

„Für mich war es letztes Jahr persönlich sehr, sehr schwierig. Es wurde auf einmal alles abgesagt, worauf ich mich gefreut habe, und das alles in kurzer Zeit. Das hat mir schon das Herz gebrochen.“ Nele Falk (23) aus Bad Oldesloe findet drastische Worte für ihre Gemütslage. Als Pflegerin hat sie zwar Verständnis für die Corona-Einschränkungen, „aber für mich gehören Festivals seit 2017 einfach dazu. Ich kann dort so richtig runterfahren und all meine Probleme vergessen.“ Festivals sind wie kleine Urlaube: Im vergangenen Jahr waren sich doch alle sicher: Im Sommer 2021 holen wir alles nach. Party bis der Arzt kommt. Statt dessen ist Corona gekommen, um zu bleiben. Sieben große Festivals wurden schon abgesagt, und auch für die anderen ist es kaum vorstellbar, dass unter strengen Hygieneregeln Partystimmung aufkommen kann. Denn das ist es, was die Besucher suchen. „Die neue Einsamkeit“ heißt das gerade erschienene Buch von Diana Kinnert. Die 30-jährige CDU-Politikerin und Autorin beschreibt darin eine Einsamkeit, die auch unabhängig von Corona immer weiter um sich greife. Als Grund sieht sie die Forderung von Konsum statt Intimität, Flexibilität statt Verbindlichkeit, immer mehr Gewinn statt Stabilität. Sie schreibt über die „Generation lost“: „Die Jugend nomadisiert heute von Job zu Job. Es gibt keine Sicherheit. Vertrauen und Intimität werden Wagnis.“ Mehr ökonomische Sicherheit würde auch mehr psychische Stabilität bedeuten (Hoffmann und Campe, 446 Seiten, 22 Euro). „Ich vermisse es schrecklich! Man freut sich ja schon am Ende jedes Festivals auf das nächste. Man freut sich darauf, mit Freunden und neuen Bekanntschaften richtig schöne Abende zu verbringen und die ganze Nacht durch zu tanzen, singen und zu trinken“, sagt Celina Minde (23). Für die Friseurin von der Insel Fehmarn sind Festivals wie kleine Urlaube. Diese Auszeiten braucht auch Jonas Lange. „Ich vermisse einfach diese Festival-Atmosphäre. Rauszugehen, unter Leuten zu sein“, sagt der 24-jährige Erzieher aus Lübeck. Er war zuletzt auf der Defqon.1 in den Niederlanden. 14 Millionen Deutsche leiden unter Einsamkeit: Nun könnte man sagen: Geht’s auch eine Nummer kleiner? Gibt es keine größere Sorgen in der Pandemie als fehlende Partys? Ganz klar gehören Gemeinschaftserlebnisse für Jugendliche und junge Erwachsene zum Lebensgefühl, sehr viele vereinsamen in der Corona-Pandemie und leiden unter Zukunftsängsten. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation leiden in Deutschland insgesamt etwa 14 Millionen unter Einsamkeit, jeder sechste fühlt sich häufig oder ständig einsam. Die Pandemie hat diese Entwicklung verstärkt. Wie sehr die Einschränkungen aufs Gemüt schlagen, merkt auch der Lübecker Psychotherapeut Peter Köhler. „Es kommen sehr viel mehr Anfragen als vor Corona. Die Patienten sind in der momentanen und schon lange bestehenden Situation sehr angespannt und unter Druck, insbesondere depressive Symptome und Ängste treten sehr viel häufiger auf.“ Die sehr hohe psychische Belastung bei vielen Menschen sei auch verständlich. „Ein Großteil der positiven, genussvollen Aktivitäten, die ich den Patienten sonst im Sinne von Bewältigungsstrategien empfehle, sind momentan schlecht oder gar nicht durchführbar.“ Dazu gehörten soziale Kontakte, Kultur, Festivals.“ „Du kannst auf Festivals sein, wer du bist“: Jonas Lange fehlt das Feiern, Tanzen, Musik hören, vorne an der Bühne stehen und mitjumpen. „Einfach dieses Feeling. Du hast einfach ein gemeinschaftliches Gefühl. Du kannst auf einem Festival sein, wer du willst: Es ist egal, ob du schwarz oder weiß bist, ob du arm oder reich bist, ob du dick oder dünn bist.“ Lesen Sie auch Hurricane, Wacken und Co.: Welche Festivals sind abgesagt – und welche sollen stattfinden? Was wird aus Sarah Connor und Santiano? Bangen um die Konzerte am Kalkberg Festivalabsagen: Was passiert mit Tickets für Rock am Ring, Hurricane, Deichbrand und Co.? Streaming-Konzerte sind kein Ersatz: Um sich trotzdem etwas Gutes zu tun, rät der Psychotherapeut Köhler, sich auf vergessene Hobbys zu besinnen oder sich mit neuen, kreativen Beschäftigungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen. Und es erscheint vor allem wichtig, die sozialen Kontakte bedacht zu nutzen, die momentan möglich sind. „Man darf sich unter Einhaltung der Regeln mit einem anderen Haushalt treffen, man kann spazieren gehen, erzählen, sich austauschen. Auch Online-Treffen mit Freunden oder Streaming-Konzerte seien eine Alternative – allerdings kein Ersatz“, sagt Köhler. Es sei wichtig, dass sich im Moment alle an die bestehenden Regeln halten. „Aber wir warten alle auf die Möglichkeiten, uns wieder mit mehr Menschen zu treffen, Gemeinschaftserlebnisse haben zu können, wie zum Beispiel Live-Konzerte, Festivals, Theaterbesuche, Tanzen mit anderen zusammen und vieles ähnliches mehr – alles das sind wichtige Bausteine für die psychische Gesundheit, speziell auch bei jungen Erwachsenen.“ Einfach mal abzappeln: „Klar sind Online-Konzerte ein kleiner Trost, aber mir fehlen die Menschen dazu, mit denen man einfach abzappeln und Spaß haben kann. Online macht es leider nicht mal ein Fünftel so viel Spaß wie auf einem richtigen Konzert“, findet Celina Minde. Ihr fehlt die Gemeinschaft. „Mein Lieblingsfestival ist Wacken und dort stimmt einfach alles, von der Atmosphäre bis hin zu den lieben Leuten. Wenn einem was fehlt, kann man rüber laufen und woanders eine Gabel oder so ausleihen, wie eine große Familie ist es da.“ Festivals als Familienfeste. Sie gehörten für Nele Falk zum Jahreslauf, seit sie 19 ist. „Es war ein komisches Gefühl, als letztes Jahr die Zeit der Festivals anbrach und man all die Vorfreude zurückstecken musste. Ich habe ehrlich gesagt nicht all zu viel gegen die Festivalsehnsucht getan, da mich das weiter runtergezogen hätte. Ich habe natürlich trotzdem weiter meine Metal-Musik gehört und die ein oder andere neue Band entdeckt.“ Für den diesjährigen Festivalsommer hat sie nicht viele Hoffnungen und blickt nach vorn: „Umso mehr freue ich mich auf das Jahr 2022.“ Von Lisa-Marie Pohlmann und Petra Haase