Forscher entwickeln Corona-Frühwarnsystem: Lübeck ist dabei

Vom 19. Oktober bis zum 27. November haben Mitarbeiter des Zentralklärwerks an fünf Tagen in der Woche je zwei Proben aus dem Abwasser und dem Klärschlamm entnommen. Die Proben wurden an ein Institut in Leipzig geschickt. In dem Abwasser der Lübecker und der Bürger anderer Kommunen suchen Wissenschaftler nach Spuren des Corona-Virus. „Unser Ziel ist, eine Art Frühwarnsystem für Corona aufzubauen“, erklärt Dr. René Kallies vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Die Entsorgungsbetriebe Lübeck betreiben zwei Kläranlagen. Das Zentralklärwerk in der Warthestraße und die Kläranlage Priwall in Travemünde. Rund 20 Millionen Kubikmeter Abwasser aus Haushalten und Betrieben werden hier jährlich gereinigt und danach dem Wasserkreislauf wieder zugeführt. Das Zentralklärwerk wurde 1967 nach rund sechs Jahren Bauzeit in Betrieb genommen und in den folgenden Jahrzehnten mehrfach ausgebaut. 1997 begann der Endausbau zu einer der größten und modernsten Kläranlagen in Schleswig-Holstein. Die Kläranlage Priwall ist die letzte verbleibende Anlage neben dem Zentralklärwerk auf dem Lübecker Stadtgebiet. Hier werden die Abwässer von Travemünde und Brodten gereinigt. Das Klärwerk ist seit 1974 in Betrieb. 1995 wurde der Vollausbau abgeschlossen. 1,6 Milliarden Euro wollen die Entsorgungsbetriebe von 2021 bis 2070 in das Abwassernetz investieren. Mindestens ein Viertel der Abwasserleitungen sind dringend sanierungsbedürftig. Nach EBL-Angaben gab es 2019 rund 100 Rohrbrüche, bei denen die Straße absackte. Ein gutes Zehntel der Leitungen führt noch Mischwasser. Das heißt, Regenwasser und Schmutzwasser werden nicht getrennt. Rund 50 Klärwerke aus der ganzen Republik beteiligen sich an dem Feldversuch unter dem Titel „Integrales SARS-CoV-2-Abwassermonitoring“. Ein Team von mehr als 20 Abwasserfachleuten, Mikrobiologen und Virologen des Helmholtz-Zentrums, der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA) und der Technischen Universität Dresden arbeitet seit Monaten daran, aus repräsentativen Abwasserproben unterschiedlich stark betroffener Bevölkerungsgruppen den Gesamtinfektionsgrad im Einzugsgebiet von Kläranlagen zu erfassen. Die Idee dahinter: Wer vom Coronavirus befallen wurde, scheidet Spuren seines Erbguts mit jedem Stuhlgang aus. „Wir erfassen damit die gesamte Bevölkerung“, sagt der Leipziger Wissenschaftler Kallies, „denn auf Toilette geht jeder.“ Lesen Sie auch Corona in Lübeck: So viele Neuinfektionen wie noch nie Lockdown: Lübecker Kfz-Zulassungsstelle bis Januar geschlossen Lübeck: Schwelbrand in ICE vor dem Hauptbahnhof – Verspätungen Unerkannte Infektionen werden erfasst: Vor allem würden bei diesem Verfahren auch Infektionen von Menschen erfasst, die nicht zum Arzt gehen und nicht getestet werden. Und von jenen Bürgern, die nichts von ihrer Infektion wissen, weil sie überhaupt keine Symptome spüren. Damit könnte ein Infektionsgeschehen in einer Kommune deutlich früher erkannt werden als durch die Gesundheitsämter, die auf Tests zurückgreifen und stets ein bis zwei Wochen hinter dem eigentlichen Infektionsgeschehen zurückliegen würden, erklärt das Helmholtz-Zentrum für Umweltfragen. „Wenn wir morgens eine Probe nehmen und nachmittags das Analyseergebnis vorliegt, können wir das Infektionsgeschehen auf den Tag genau nachweisen“, erklärt René Kallies,. Es sei feststellbar, dass Infektionen stattfinden oder nicht, und aus den Daten könnte eine Entwicklung des Infektionsgeschehens herausgelesen werden. Messungen sind Instrument zum Nachsteuern: „In solchen Messungen steckt großes Potenzial für die Etablierung eines räumlich differenzierten, kontinuierlichen Frühwarnsystems, etwa um die Folgen von Lockerungsmaßnahmen zu beobachten und wenn nötig nachzusteuern“, heißt es auf der Internetseite des Helmholtz-Zentrums. Mit Probenahmen an rund 900 Kläranlagen könnten etwa 80 Prozent des gesamten Abwasserstroms und damit ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland täglich erfasst werden. Die LN haben zwei Fachleute aus Lübeck befragt, was sie von dem Ansatz halten. „Wissenschaftlich gesehen ist das sicher ein interessantes Konzept“, erklärt Prof. Alexander Katalinic, Direktor des Institutes für Sozialmedizin und Epidemiologie an der Uni Lübeck. Der Epidemiologe hat aber Zweifel, ob das Konzept tatsächlich für die Kontrolle der Corona-Pandemie praktisch anwendbar sei. „Steigt der Messwert früh genug oder erst, wenn schon zu viele infiziert sind?“, fragt Katalinic, „und welche Empfehlung und Handlungen können aus solchen Messungen folgen?“ Soll man Stadtteile wegen hoher Viruslast im Abwasser in Quarantäne schicken? „Interessantes Frühwarnsystem“: „Die Untersuchung von Abwässern auf SARS-CoV-2 ist ein interessantes Frühwarnsystem, aber bislang von rein wissenschaftlicher Natur“, erklärt Dr. Alexander Mischnik, „konkrete Maßnahmen lassen sich daraus nicht ableiten.“ Aus Sicht des Chefs des Lübecker Gesundheitsamtes ist das Verfahren aufwendig und teuer, weil die Abwasserproben in speziellen Labors aufbereitet und untersucht werden müssten. Wegen der Verdünnung des Abwassers sei die zahlenmäßige Interpretation der Daten sicherlich nur schwer einschätzbar. Mischnik: „Aus wissenschaftlichen Gründen ist die Teilnahme an diesem Programm zu unterstützen. Nur für den praktischen Einsatz sehe ich keinen Mehrwert.“ Von Kai Dordowsky