Gefährliches Leben auf der Straße: Mit der Obdachlosenhilfe durch Lübeck

Der rumänische Gastarbeiter wurde ausgebeutet, unter Drogen gesetzt und misshandelt, zusammengeschlagen an seinem Schlafplatz, auf offener Straße. Nun lebt er seit vielen Jahren auf der Straße in Lübeck. Außer der Obdachlosenhilfe würde sich niemand mehr um ihn kümmern. Er ist keine 50 Jahre alt – und schwebt in akuter Lebensgefahr. Die LN haben die Obdachlosenhilfe am ersten Weihnachtsfeiertag auf ihrer Fahrt durch die Innenstadt begleitet. „Ismael wird leider in den nächsten Tagen allein auf der Straße versterben“, erzählt Jan Rühmling, Vorsitzender der Lübecker Obdachlosenhilfe. Ismael ist der traurige Härtefall der Obdachlosenhilfe, ihm kann nicht mehr geholfen werden. Leberzirrhose, Hepatitis, Aids: Der Rumäne hat Leberzirrhose im Endstadium, Hepatitis C und Aids. Ismael sitzt auf seiner Matratze im Durchgang zwischen Zob und Hauptbahnhof, er redet leise, in seinen zitternden Fingern hält er eine Zigarette, sein Blick ist leer. Fast jeder Lübecker wird auf dem Weg zum Bahnhof schon an Ismael vorbeigegangen sein, ohne ihn zu bemerken. Machtlos gegen die Schmerzen: Sein gesamtes Hab und Gut ist neben seiner Matratze in Einkaufsbeuteln gelagert. Seine Schuhe hat er neben der Matratze abgestellt, als hätte Ismael sich fürs ‚nach Hause kommen’ die Schuhe ausgezogen. Schmerzen habe er, doch dagegen sind Rühmling und sein Team machtlos. „Wir sind keine Ärzte und dürfen deshalb keine Medikamente geben“, erklärt Claudia Siemers, die heute mit Jan Rühmling auf Tour ist. „An der gleichen Stelle ist vor einem Jahr schon ein Obdachloser gestorben, er wird der nächste sein“, so Siemers. „Obdachlosigkeit kann jeden treffen“: Zurück im Lager der Obdachlosenhilfe auf der Wallhalbinsel im Schuppen F. Es türmen sich Kleidung, Schlafsäcke und Isomatten. In Regalen lagern Hygieneprodukte und unverderbliche Lebensmittel. Was vor vier Jahren mit einem großen Regal voll mit dem Nötigsten für die Obdachlosen begann, hat sich mittlerweile zu einem riesigen Lager entwickelt, mit wirklich allem, was die Menschen auf der Straße benötigen. „Von uns bekommen unsere Schützlinge alles, was sie zum Leben auf der Straße benötigen, außer Geld“, erklärt Jan Rühmling. „Gründe für Obdachlosigkeit sind vielfältig und es kann wirklich jeden treffen, und es hält sich leider auch das Vorurteil, dass in Deutschland niemand obdachlos sein müsse“, so Rühmling weiter. „Das ist Quatsch, sobald man beispielsweise eine Suchtkrankheit hat, wird man in keiner Aufnahmeeinrichtung mehr angenommen.“ Mutter mit Kind – obdachlos: Die Schützlinge von Rühmling und seinem Team reflektieren das, was der Vorsitzende vorher erklärte: „Von 16 bis 65, männlich, weiblich, selbst eine Mutter mit Kind betreuen wir.“ In Deuschland gibt es Schätzungen zufolge 800.000 bis 1,2 Millionen Wohnungslose, wovon geschätzt mindestens 50.000 auf der Straße leben müssen, offizielle oder genaue Zahlen gibt es nicht. Diese Menschen sind auf die Unterstützung von Obdachlosenhilfen angewiesen. Gegen 19.30 Uhr rollt der Herzenswärme-Bus, beladen mit warmem Essen und gespendeten Weihnachtsgeschenken vom Lager los, in Richtung Hauptbahnhof. In dieser Nacht ist es bitterkalt, mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Am Bahnhof angekommen, dauert es nicht lange, bis die ersten Menschen zum Bus kommen. „Die Obdachlosenhilfe hilft mir wirklich“: Unter ihnen ist auch Michael. Er ist Mitte Fünfzig und wohnungslos. „Ist schon nicht so toll“, beschreibt er seine Situation nüchtern. Er holt sich eine warme Malzeit und einen heißen Kaffee, er bekommt auch eine Tüte voller kleiner Geschenke von der Obdachlosenhilfe. Die Essensration verstaut er in einem ausgeblichenen Kinderrucksack. „Das ist echt sehr gut, was die hier machen, es hilft mir wirklich und erleichtert mir das Leben um einiges“, erzählt er. Dann schwingt er sich auf sein altes Damenrad und fährt wieder in die Lübecker Nacht. Ein Mann Namens Socke: Mit am Bus steht ‚Socke’. Er ist Streetworker, war selbst Obdachlos und suchtkrank, hat es wieder nach von der Straße geschafft. Jetzt hilft er denjenigen, die sich selbst oft nicht mehr zu helfen wissen. „Meine laut aufgedrehte Musikbox ist mein Erkennungszeichen“, sagt Socke mit einem breiten Grinsen. Er ist Insider der Lübecker Obdachlosenszene, kennt die Nöte der Menschen. Mittlerweile ist der Bus am Klingenberg angekommen. Socke hat noch einen weiteren Schützling aufgelesen, den er mit zum Bus bringt. Kaum ist Socke in Sichtweite vom Bus, winken ihm die bedürftigen Menschen zu. „Guck mal, da kommt Socke“, freut sich einer der Obdachlosen, als würde er einen alten Freund nach einer langen Zeit wiedersehen. „Wenn ihnen keiner aus ihrem Loch raushilft, dann bleiben sie da auch drin“, erklärt der Streetworker. „Man muss ihnen zeigen, dass sie noch Teil der Gesellschaft sind und auch noch wertgeschätzt sind“, so Socke weiter. Am Klingenberg hat sich auch Marcel mit Essen eingedeckt. Er wohnt in der Aufnahmeeinrichtung in der Schlutuper Straße, bekommt 300 Euro Harz IV im Monat und hat Schulden. „Meine komplette Kleidung habe ich vom Wärmebus“, berichtet der 44-jährige. Marcel ist ein augenscheinlich fröhlicher Mensch, er redet offen über seine Situation. „Ich habe erst auf der Straße gelebt, jetzt konnte ich zum Glück in der Schlutuper Straße unterkommen“, erzählt er. „Viele von uns haben Schulden, die wir abbezahlen müssen. Mit dem wenigen Harz IV, was wir im Monat bekommen, reicht es dann oft nicht mehr für Essen. Hätten wir die Obdachlosenhilfe nicht, naja, dann wären wir echt am Ende.“ Von Max von Schwartz