Historiker Michael Hundt: So besonders sind die Wandmalereien im Lübecker Rathaus

Es gibt keinen schöneren Saal in diesem Haus. Wirklich nicht. Der Audienzsaal ist das Herz und Aushängeschild des Lübecker Rathauses, in dem unter anderem auch Trauungen stattfinden – wenn Corona es erlaubt. Besonders schön an diesem Saal sind die großen Wandbilder, zehn Stück an der Zahl, die allesamt Tugenden einer guten Regierung abbilden. Freiheit, Einigkeit, Mäßigung, Verschwiegenheit, Klugheit, Voraussicht, Gerechtigkeit und Frieden, Barmherzigkeit, die freien Künste und der Handel. Zunächst waren nur acht angedacht, die letzten beiden Bilder kamen im Entstehungsprozess dazu – alle gemalt vom italienischen Rokoko-Meister Stefano Torelli, der aus Bologna über Dresden nach Lübeck kam und die Rathaus-Bilder im Zeitraum von 1759-1761 malte. Genau. In gerade einmal drei Jahren. Lesen Sie auch Lübeck - Die ungleichen Türen im Rathaus – LN - Lübecker Nachrichten Lübecker Rathaus: Das Geheimnis der Tresore Dieses historische Foto zeigt den Balkon am Rathaus von Lübeck Fotografen ihrer Zeit: „Ja, Torelli war schon sehr fleißig“, sagt Dr. Michael Hundt. „Er hatte zwar auch einen Gehilfen, aber das Tempo war dennoch enorm für diese Zeit.“ Ein anderes „Medium“ zum Abbilden von Portraits und Situationen habe es zu der Zeit ja auch nicht gegeben, sagt der Historiker aus Lübeck. Wo heute sekundenschnell ein Smartphone gezückt ist und Bilder von allen möglichen Situationen gemacht werden, gab es im 18. Jahrhundert eben nur Maler, die den Pinsel zückten und Bilder durch Farbe entstehen ließen. Lübecks Rathaus zählt zu den bekanntesten Bauwerken der Backsteingotik und ist eines der größten mittelalterlichen Rathäuser in Deutschland. Es wurde um 1240 errichtet und nahm im Laufe der Jahrhunderte und Epochen (Frühgotik, Spätgotik und Renaissance) immer wieder neue architektonische Gestalt an. So wurden 1750 – um den gotischen Ratssaal im Hochparterre an der Breiten Straße zum Audienzsaal im Rokokostil umzugestalten – die Erdgeschossfenster tiefer gesetzt. Der Audienzsaal mit seinen imposanten Kristallleuchtern, Samtsofas, dem edlen Marmorfußboden und den Gemälden des italienischen Künstlers Stefano Torelli ist der mit Abstand schönste und auch größte Saal im Rathaus. Das Buch von Dr. Michael Hundt zu Torellis Wirken im Lübecker Rathaus ist im Handel zum Preis von 29,95 Euro erhältlich (ISBN 9783731910510). Dr. Hundt ist eine Art Torelli-Experte. Ein Vortrag zum 875-jährigen Stadtjubiläum im Jahr 2018 widmete sich dem 18. Jahrhundert in Lübeck, über das Hundt dann schließlich beim Audienzsaal und den Malereien landete, denen er sich dann intensiver widmete. „Neuer Glanz in alten Mauern – Stefano Torelli “, heißt der Bildband, der daraus entstanden ist, und hält viele Details, historische Recherchen und sehr interessante Anekdoten rund um die Entstehungsgeschichte der Bilder und Lübeck im 18. Jahrhundert bereit. Ganzseitige Abbildungen aus dem Lübecker Rathaus: Das mehr als 200 Seiten umfassende Buch erzählt spannende Geschichten über den Umbau des Audienzsaals und die Berufung Torellis an die Trave. Es gibt zudem einen stadthistorischen Abriss über Verträge, Verhandlungen und Währungen im Lübeck des 18. Jahrhunderts. Vor allem werden erstmals alle zehn Wandgemälde im Audienzsaal sowie die weiteren – heute noch erhaltenen – Werke Torellis aus dessen norddeutscher Zeit ausführlich beschrieben und in ganzseitigen Farbabbildungen sowie in zahlreichen Detailstudien wiedergegeben. Das ist absolut neu. „Es gibt noch so viele wunderschöne Details in den Bildern zu entdecken, die im Buch erläutert sind und einen großartigen zweiten Blick auf die Bilder erlauben“, schwärmt der Autor. Lübecker Dom mit vier Türmchen: So lässt sich im Bild der „Freiheit“ zum Beispiel eine Kirche von Torelli erkennen, die Hundt aufgrund ihrer vier kleinen Türme zunächst für die Petrikirche gehalten hatte. „Bei näherer Betrachtung und weiteren Recherchen aber zeigte sich, dass es sich um den Dom handelt, der offenbar in seinem Ursprung mit vier kleinen Türmchen gebaut worden war.“ Hundt ist seit rund zwanzig Jahren Mitglied im Vorstand des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde und für viele Jahre Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg gewesen – und selbst ihn haben die Recherchen im Lübecker Stadtarchiv und den Lübecker Museen, die ihn bei seiner Arbeit unterstützten, noch mit neuen Erkenntnissen überraschen können. Torelli, über dessen Persönlichkeit nicht allzu viel bekannt ist, ließ sich in seinen Arbeiten nämlich auch durchaus von der Stadt inspirieren – mehr noch: Der Maler, der mit seinem Gehilfen Gandini in der Nähe des Doms gewohnt haben soll – im Bereich Am Mühlendamm –, übertrug auch Details in seinen Bildern, die sehr viel Aufschluss über die Stadt- und Kirchenarchitektur geben. Das einzig offene Rätsel: Niemand weiß, wie Torelli ausgesehen haben mag. „Es gibt kein Selbstbildnis des Künstlers“, sagt Hundt. Eitelkeit schien also nicht zu Torellis Wesenszügen gehört zu haben, denn auch sein Gehilfe hatte nicht zum Pinsel gegriffen, um seinen Meister zu porträtieren. Vielleicht aber auch hatten die beiden Künstler einfach keine Zeit dafür. Schließlich gab es im Audienzsaal des Lübecker Rathaus genug zu tun. Von Schabnam Tafazoli