In den Fängen der Stasi - der Arzt Dietrich von Maltzahn aus Lübeck hält die Erinnerung wach

Sie rasten durch Leipzig und wussten: Es ist vorbei. Es war nicht ihr erster Fluchtversuch, aber es war ihr letzter. Die Autos der Verfolger riegelten den Weg ab. Männer in dunklen Ledermänteln stiegen aus, drei von ihnen zogen ihre Pistolen. Dietrich und Heide von Maltzahn sahen sich an. Hinten im Auto saßen ihre Zwillingstöchter, elf Jahre alt. Alles riskiert, alles verloren: Es war der November 1975, und es war der Beginn einer furchtbaren Zeit. Dietrich von Maltzahn erhielt dreieinhalb Jahre Haft, seine Frau zwei Jahre. Sie hatten es nicht mehr ausgehalten in der DDR. Sie hatten alles riskiert und alles verloren. Am 9. November, dem Tag des Mauerfalls, hat Dietrich von Maltzahn einen Termin in Brook im Klützer Winkel an der Ostsee. Dort wird eine Stele mit einem Text von ihm eingeweiht, die an die deutsch-deutsche Teilung erinnert. Dort an der Küste wurden Menschen angespült, die beim Fluchtversuch aus der DDR übers Meer ertrunken waren. Von Maltzahn hatte damals die Aufgabe, die Totenscheine auszufertigen. Im Rahmen des Projekts „Grenzenlos von Lübeck bis Boltenhagen“ sind schon eine ganze Reihe dieser Tafeln aufgestellt worden. Das Buch „Mein erstes Leben oder Sehnsucht nach Freiheit“ (belleville, 232 Seiten, 18 Euro) liegt inzwischen in der 5. Auflage vor. Das ist ein halbes Leben her. Von Maltzahn, ein Mann von inzwischen 79 Jahren, sitzt in seinem Haus in Lübeck. Es ist Herbst, draußen in dem großen Garten fallen die Blätter. Ein Buch liegt auf dem Tisch. „Mein erstes Leben oder Sehnsucht nach Freiheit“ heißt es. Er hat es vor Jahren geschrieben, damit man weiß, wie es gewesen ist. „Ich musste das einfach loswerden“, sagt er. „Seitdem geht es mir besser.“ Sie wollten nicht weg: Von Maltzahn stammt aus Schwerin. Ein promovierter Mediziner, der die Poliklinik in Boltenhagen geleitet hat und Bereichsarzt war für den Klützer Winkel. Er lebte mit seiner Frau und den Töchtern 60 Meter von der Ostsee. Es ging ihnen gut, sagt er. Sie wollten nicht weg. Aber dann floh sein bester Freund Jürgen, er galt als Mitwisser, und dann ließ ihn das System nicht mehr aus den Augen. Richtmikrofone und Loch in der Zeitung: Sie holten ihn ab zum Verhör nach Grevesmühlen, immer wieder, auch seine Frau, manchmal behielten sie ihn über Nacht da. Sie verfolgten ihn. Es gab Richtmikrofone und Autos, die ihn bei jeder Fahrt begleiteten. Es gab Wanzen im Telefon und Männer hinter Zeitungen mit einem Loch darin. Es gab das ganze bizarre Programm. Irgendwann wussten sie: Es geht nicht mehr. Sie schmiedeten Pläne. Mit dem Bruder in Lübeck, der schon 1957 in den Westen gegangen war, mit dem Freund Jürgen. Schleuser wurden eingeschaltet, sie packten, fuhren los, aber dann wurde es wieder nichts. Sie redeten mit niemandem darüber. Sie schrieben Zettel, wenn sie planten, und verbrannten sie hinterher im Kamin. Sie waren so vorsichtig, wie man irgend vorsichtig sein kann. Und im November 1975, im bitterkalten Leipzig, als sie sich mit je einem Kind aufteilen und über Hof und Berlin fliehen wollten, war alles aus. Einen Menschen brechen: Heide von Maltzahn kam ins Gefängnis Hoheneck im Erzgebirge, ihr Mann nach Rostock, Cottbus und Bautzen. Die Stasi-U-Haft in Rostock war am schlimmsten, sagt er. „Furchtbar.“ Es ging um Zermürbung, um Entwürdigung. Es ging darum, jemanden zu brechen. Sie sperrten ihn in eine kleine Zelle, oft allein, die dreckigen Glasbausteine ließen Tag und Nacht verschwimmen. Die Wärter schlugen mit Hämmern gegen die Metalltüren. Es gab eine Lichtzelle mit tausenden Lämpchen und die diffuse Angst, da könnte auch Gas ausströmen. Zum Freigang kam man in einen drei mal fünf Meter großen Betonkäfig. Oben in fünf Metern Höhe stand eine Wache mit einer Maschinenpistole. Und sein Zellennachbar war nicht sechzig, wie er schätzte, sondern 29. Sie hatten ihn fast völlig zerstört. Kriminelle und Vierstockbetten: Nach einem halben Jahr in Rostock wurde von Maltzahn verlegt. Der Zug mit den Gefangenen machte sich auf die Reise durch die Republik und stoppte für ihn in Cottbus. Zwölf Mann auf wenigen Quadratmetern, Kriminelle, politische Gefangene, vierstöckige Betten, ein Waschbecken, eine Toilette, arbeiten in der Bohrerei für Pentacon. Nach einigen Monaten ging es weiter, ohne Ankündigung. Sie steckten ihn in einen Kleinbus, es dauerte Stunden, und als er ausstieg, sah er gewaltige gelbe Mauern: Bautzen! 5000 Gefangene. Eine Stadt für sich. Ein Albtraum. Von Maltzahn musste die Häftlinge untersuchen, die sich vor der Arbeit krank gemeldet hatten. Man weckte ihn nachts um zwei, dann musste er fast im Sekundentakt entscheiden, wer simulierte und wer nicht. Es war nicht zu schaffen und völlig verantwortungslos. Dann gab es noch die Arbeit auf der Station, die Rufbereitschaft, die psychisch Kranken, die Selbstmorde, den ganzen Wahnsinn, der bis in die Nacht dauerte. Er nahm 30 Kilo ab. Tennisspieler und Zehnkämpfer: Er war ein kräftiger Mann, als man ihn einsperrte. 34 Jahre, Leistungssportler, Tennisspieler, ein sehr guter Zehnkämpfer. Und jemand mit einem festen Willen. Einer, der sich lieber auf sich selbst verließ statt auf andere. Schon gar nicht auf einen Staat, der seine Bürger in Schach hielt und ihnen mit dem Schießbefehl die Grenzen aufzeigte. Warum das Krankenhaus in Grevesmühlen für die Stasi so wichtig war Stelen zur Grenzgeschichte des Ostseebads Querlage — Erinnerungen eines Arztes Aber er war oft genug verzweifelt in der Haft, und einmal war er völlig am Ende. Er hatte sich einem hohen Offizier widersetzt, und der drohte ihm, er werde die DDR nie verlassen, niemals. Das war der Tiefpunkt, sagt er. Da hatte er alle Hoffnung verloren. Da war die Zukunft nur noch Düsternis und Bitterkeit. Bis ein Wachtmeister hereinkam, ihm auf die Schulter klopfte und sagte: Nehmen Sie’s nicht so ernst, der wollte sich nur wichtig machen. Das weiß der schon gar nicht mehr Wimmerndes Elend: Von Maltzahn berichtet von der Hilflosigkeit und der Wut. Vom Schlüsselbund, das dem Mann vor ihm durchs Gesicht gezogen wurde, völlig unvermittelt, völlig brutal. Von der „Mumpe“, diesem dunklen, feuchten Kerker in Cottbus, der aus Menschen gebrochene Wesen machen konnte, leise wimmerndes Elend. Vom ewigen Hunger. Von Drohungen und Lockungen, von dem ganzen Arsenal an Schikanen und Mechanismen, jemanden gefügig zu machen. Von seiner Stasi-Akte, die er später eingesehen hat, 3500 Seiten dick. Und er erzählt von seiner Ausreise. Im Sommer 1977 war das, nach einem Jahr und zehn Monaten. Seine Frau war schon einige Wochen vorher freigekauft worden, die Töchter, die bei den Schwiegereltern geblieben waren, kamen nach Ferienende im September. Sie hatten nichts dabei, nur einen großen Teddy. Sie begannen ein neues Leben in Lübeck. Von Maltzahn eröffnete eine Praxis, sie kauften ein Haus, zwischendurch war er auch kurz Gefängnisarzt in Lauerhof, und eine seiner Patientinnen hieß Brigitte Mohnhaupt, die RAF-Terroristin. Nichts ist mehr selbstverständlich: Er lebt seit der Haft bewusster, sagt er. „Ich nehme anders wahr. Ich kann mich über Dinge freuen, die mir früher vielleicht gar nicht aufgefallen wären.“ Er nimmt nichts mehr für selbstverständlich. In zwei Wochen wird er 80, arbeitet aber immer noch als Arzt. Ein kräftiger, vitaler Mann. Er ist nicht verbittert, er sinnt nicht auf Rache, auch wenn die Täter nicht hart genug verfolgt und bestraft würden, wie er sagt. Es gebe einige, denen könne er nicht verzeihen. Anderen aber schon. Den einfachen Schließern etwa. Es habe auch sehr anständige Leute unter den Bewachern gegeben. Und es sei nicht alles schlecht gewesen in der DDR. Das Bildungssystem etwa, die Kinderbetreuung, der Breitensport. Kein Unrechtsstaat: Aber es sei „kein Rechtsstaat“ gewesen. Kein Unrechtsstaat zwar, aber eben auch kein Rechtsstaat, so hält er das auseinander. Und davon will erzählen. „Die Menschen, die uns gequält haben, sind alle noch da“, sagt er. „Da muss man den Finger in die Wunde legen. Das ist mein Auftrag.“ Von Peter Intelmann