JVA Lübeck: Briefe aus dem Knast vorgelesen

Sie werden niemals abgeschickt, die Briefe aus dem Knast. Teilnehmer des Anti-Gewalt-Trainings in der JVA Lübeck schrieben sie an ihre Opfer. Das wochenlange Ringen um passende Worte ist Teil der Maßnahme, umgesetzt von der Rechtsfürsorge e.V. Lübeck. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Würde/Träger“ der Gemeinnützigen wurde dazu eine szenische Lesung im „Theater Partout“ auf die Bühne gebracht, in Zusammenarbeit mit der Reso-Hilfe des Vereins und Schauspieler Robert Brandt. Ein Bett, ein WC, ein Waschbecken mit Kreide aufgemalt: Die wenigen zur Verfügung stehenden Quadratmeter zieht Brandt mit wenigen Kreidestrichen auf dem Boden nach. Dazu ein Bett, ein WC, ein Waschbecken. Das Licht draußen wirft Schattenrisse der Gitterstäbe in den Raum. Hier findet statt, was eine Zuschauerin später in der Diskussion als „innere Arbeit“ bezeichnet. Bis April 2020 gibt es unter dem Titel „Würde/Träger Ausstellungen, Lesungen, Vorträge, Schul- und Kita-Projekte sowie eine Filmreihe im KoKi. Am Donnerstag, 21. November, 19 Uhr, findet in der Kunsttankstelle, Wallstraße 3-5, „ ... Die Musik blieb“ statt: Peter Fischer liest einen autobiografischen Text von Arno Stern über die Zeit der Flucht und Verfolgung in den Jahren 1933 bis 1945. Ria Bredemeyer liest Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger, die als Achtzehnjährige 1942 in einem Arbeitslager starb. Dazu gibt es Musik u. a. von Ludwig van Beethoven, Antonin Dvořák und Franz Schubert. Der Eintritt ist frei. Infos zu weiteren Veranstaltungen unter www.wuerde-traeger.de. „Als wäre man noch ein Kind“: Brandt spiegelt beim Lesen aus den Briefen kraftvoll das Ringen mit der Aufgabe wider, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen: „Keiner hat das Recht, einen Mord zu begehen“, „Die Narben werde ich immer tragen“, „Die Nacht deines Todes wird immer Teil von mir sein“. Selbst nach Jahren werden Abläufe schwerer Straftaten chronologisch detailliert erinnert. Es gibt Rechtfertigungsversuche: „Wer mit Drogen andere Leute kaputt macht, hat selber schuld, wenn man ihn kaputt macht.“ Und die langjährige Haft, der Entzug von Mündigkeit – „als wäre man noch ein Kind“. Die Täter sollen Scham empfinden: Im Anschluss berichtet Torger Bünemann, Mitarbeiter der Reso-Hilfe, aus seiner Arbeit mit den Gefangenen. In Gruppentreffen gibt es eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt, der Perspektive des Opfers, dem männlichen Rollenbild. Abwehrstrategien werden offengelegt und bewusst gemacht, wie Bagatellisierungsversuche der Gefangenen: „Reue ist kein Ziel in der Arbeit, sondern eher, dass sie Scham empfinden“, erläutert Bünemann. Das Schriftbild der Briefe zeige oft „das Gebrochene, Chaotische“ dieser aufwühlenden Aufarbeitung. „Es gibt nichts Besseres als Freiheit“, steht in einem der Briefe. Die Erkenntnis, dass Grundlage dafür die Achtung der Würde des anderen ist, das zeigt diese Lesung, ist ein mit Anstrengung verbundener Prozess. Projektreihe führt zu lebhaften Diskussionen: Es wird uns oft erst bewusst, wenn es verletzt wird: das seit 70 Jahren im ersten Artikel des Deutschen Grundgesetzes verbriefte Recht auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Entstanden aus dem mittelhochdeutschen „Wirde“ (Wert) sind Begriff und Bedeutung von Würde für die kommenden Monate die Basis vielfältiger Projekte. Auch Schulen werden einbezogen: An die Stelle von „Würdenträgern“ vergangener Zeiten mit Insignien der Macht oder politischer Ämter, erläutert der Leiter der Kunstschule Tim Maertens, sei nun jeder Einzelne unserer Gesellschaft als ein Träger von Würde getreten. In der gesamten Bandbreite der Kultur – Kunst, Musik und Schauspiel – werde im Rahmen der Projekte kontrovers diskutiert über die vielfältigen Facetten dieses Begriffs. „Wir beteiligen auch die Schulen“, erklärt Maertens, dazu habe es bereits positive Rückmeldungen von Lehrern zu lebhaften Diskursen gegeben. Die Gemeinnützige als Gemeinschaft von Kreativen: Das Format der Reihe in dieser Bandbreite sei vollkommen neu für die Gemeinnützige, so Direktorin Angelika Richter: „Wir wollen zeigen, wie vielfältig wir sind.“ Mit ihrer 230-jährigen Geschichte wolle die Gemeinnützige nicht als „ehrwürdige elitäre Bürgervereinigung“ gesehen werden, sondern als eine Gemeinschaft von kreativen Menschen, die sich dem ursprünglichen Ziel verpflichtet sieht, „Wissen, Bildung im weitesten Sinne zu fördern und in die Breite zu tragen“ sowie soziales Engagement vorzuleben. Mit den 20 Einrichtungen, über 50 unselbstständigen Stiftungen und 40 Tochtergesellschaften und -vereinen sollen auch viele junge Menschen erreicht werden. Der Weg ist das Ziel: Schon jetzt zeige sich, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Würde sehr vielfältig sei: Verbunden mit den Begriffen Respekt und Wertschätzung werde auch über die Qualität sozialer Kommunikation gesprochen sowie Mobbing, Rücksichtnahme und Kompromissbereitschaft thematisiert. Weitere Aspekte seien die Würde von Tieren oder Nachhaltigkeit als Erhaltung der Schöpfung. Der Begriff Würde berühre viele hochaktuelle Themen, betont Angelika Richter. Daher sei unabsehbar, zu welchen Ergebnissen Teilnehmer und Publikum kommen werden: „Eigentlich ist der Weg das Ziel.“ Das könnte Sie auch interessieren: Häftlinge zu laut: JVA-Beamte in Schleswig-Holstein leiden unter Lärm Lübecks neue Gefängnis-Pastorin Hinter den Kulissen: So funktioniert das Landgericht Lübeck Von Margitta True

Lesung - Erstmals vorgelesen: Briefe aus dem Lübecker Knast