Jazz-Star und Städtebau-Professor: Christopher Dell in Lübeck

Als Musiker ist Christopher Dell (53) Stammgast beim Festival Jazz Baltica und tritt auf Augenhöhe mit Stars wie Nils Landgren auf. Als Wissenschaftler beschäftigt er sich mit Gesellschaft, Organisation und Städtebau. An der Universität der Künste in Berlin lehrt er Städtebau und Stadterneuerung. Seine Idee: Wenn die Planer so viel von Improvisation verständen wie die Jazzmusiker, wären unsere Städte besser dran. Im Interview erklärt er, was er damit meint. Wie erklären Sie einem Menschen, der von Jazz nichts versteht, was das Tolle an Improvisation ist? Die erste gute Nachricht ist, dass beim Improvisieren jeder so sein kann, wie er ist. Das ist ungewöhnlich in einer Gesellschaft, in der es so viele normierte Lebensformen gibt. Im Jazz zählt die Persönlichkeit, man kann nicht so tun als ob. In der klassischen Musik kann ein vierjähriges Kind schon Mozart spielen, ohne zu verstehen, um was es geht. Bei der Improvisation ist man selbst gefragt mit dem, was man kann. Der Angang dabei ist, dass man für sein eigenes Handeln Verantwortung übernehmen muss. Es muss nicht virtuos sein, aber es muss Sinn ergeben. Sie sagen, Stadt bestehe aus Improvisation. Was bedeutet das? Beim Jazz machen Leute Musik, ohne dass sie geplant ist, manchmal steht nicht mal ein Notenständer auf der Bühne. Der Sinn kommt aus dem Spielen, aus der Handlung selbst. So ist es auch in der Stadt: Eine zeitgenössische Stadt ist kein neutraler Behälter, den man plant, und der dann gefüllt wird von Menschen mit ihren Handlungen. Das war das Modell der industriellen Gesellschaft. Die hat sich aber extrem gewandelt. Die Stadt entsteht nicht aus dem Plan, sondern aus den Handlungen ihrer Bewohner. Die Hausfrau ist in der Küche, der Mann kommt kaputt von der Arbeit nach Hause, die Kinder spielen immer von eins bis zwei? Nein! Das wirkliche Leben ist eine Improvisation, ein Handeln in Unbestimmtheit. Das Architekturforum Lübeck feiert sein 20-jähriges Jubiläum mit einem temporären Brückenschlag über den Wallhafen. Die Arbeiten an der Pontonbrücke zwischen nördlicher Wallhalbinsel und Roddenkoppel beginnen am frühen Sonnabendmorgen an der Wallhalbinsel. Am Mittwoch, 4. September, um 18 Uhr wird die Brücke, die drei Wochen Bestand haben soll, mit Bausenatorin Joanna Hagen auf der Wallhalbinsel eingeweiht. Das Architekturforum versteht den Brückenschlag als Anregung zur Diskussion über Brücken und Infrastruktur. Um 19 Uhr folgt auf der anderen Hafenseite unter dem Motto „Architektur trifft Jazz“ eine „Lecture Performance“ mit Christopher Dell, Deutschlands bekanntestem Jazz-Vibraphonisten. Aber das, worum es in Politik und Verwaltung meistens geht, sind Sachen, die geplant werden müssen und funktionieren müssen: Straßen, Brücken, Busverkehr, Müllabfuhr. Ja, natürlich, das ist auch im Jazz so. Wenn ich nächste Woche nach Lübeck komme, dann ist es gut, wenn da auch das Vibraphon steht, was ich bestellt habe und nicht irgendeines. Improvisation heißt nicht, das nichts funktionieren müsste, im Gegenteil. Die Infrastruktur muss funktionieren, aber so, dass sie ermöglicht und nicht festlegt. Wie hängen diese Gedanken damit zusammen, dass Sie selbst Jazzmusiker sind? Ganz einfach: Aus der Musik weiß ich, dass es stimmt. Also das, was in der Architektur erst entdeckt werden muss: dass Improvisation funktioniert, und dass sie ein Wissen für zukünftiges Handeln birgt. Dass man selbst Raum produzieren kann – obwohl es alle als Stadtbewohner schon irgendwie machen – das wissen eben noch nicht viele. Erst neulich kam ein zwölfjähriges Mädchen nach einem Konzert zu mir und sagte: Was du da spielst, das ist ja der Wahnsinn. Hast du das alles auswendig gelernt? Von Hanno Kabel

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