Karstadt-Aus in Lübeck: Stadtsoziologe rät im Zweifel zum Abriss

Dr. Marcus Menzl hat unter anderem Städtebau/Stadtplanung, Soziologie und Volkswirtschaftslehre studiert. Seit 2017 ist er Professor für die Soziologie der gebauten Umwelt im Fachbereich Bauwesen an der Technischen Hochschule Lübeck. Immer mehr Kaufhäuser schließen, zuletzt LMK in Eutin und jetzt auch womöglich Karstadt in Lübeck. Ist so etwas immer der Anfang vom Ende einer Innenstadt? Es ist der Anfang vom Ende einer Innenstadt, wie sie sich in der Nachkriegszeit entwickelt hat. Da wurden die Innenstädte immer stärker vom Einzelhandel mit oft sehr ähnlichen Filialisten dominiert. Und dieses Modell kommt in die Krise. Aber es ist auch eine Chance. Wir müssen Innenstädte neu denken, weg von der Dominanz des Einzelhandels. Enorme Umbaukosten: Sollte Karstadt in Lübeck wirklich dicht machen: Wie könnten die Gebäude künftig genutzt werden? Es zeigt sich jetzt in vielen Städten, dass es ein Fehler war, die kleinteilige Struktur zugunsten großer Häuser aufzugeben. Wenn bei Sport Karstadt in der Lübecker Holstenstraße tatsächlich ein Hotel entstünde, wäre es vielleicht das Beste, was einem solch großformatigen Gebäude passieren kann. Sollte sich in der Breiten Straße keine Folgenutzung finden, muss man darüber nachdenken, ob man diese Immobilien zur Disposition stellt. Zumal die Umbaukosten ja auch enorm sind. Abriss? Genau. Also Abriss? Genau. Man muss dann breiter und mutiger denken, hin zu mehr Vielfalt. Es gibt viele Hinweise, dass der Einzelhandel künftig nicht mehr der große Treiber in den Innenstädten sein wird. Aber man kann den Anteil von Gastronomie und Wohnen erhöhen. Man kann das Straßenbild verändern, das derzeit ganz stark von Schaufenstern geprägt ist, so dass man die oft wahnsinnig attraktiven Hausfassaden gar nicht mehr sieht. Man muss sehen, wo der Einzelhandel noch einen Mehrwert gegenüber dem Onlinehandel bietet. Einkaufen muss einen Wohlfühl- und Erlebnischarakter haben. Lesen Sie auch: Karstadt in Lübeck vor dem Aus Die Hüxstraße macht’s vor: Gibt es da schon Beispiele? In Lübeck etwa die Hüxstraße. Die ist mit ihrer Mischung aus vielen kleinen Läden und Gastronomie für bestimmte Zielgruppen hochgradig attraktiv. So etwas funktioniert. Menschen wollen heute beim Einkaufen eine bestimmte Atmosphäre haben, in der sie sich wohlfühlen, die authentisch ist und zu ihrem Lebensstil passt. Das bieten große Warenhäuser und Filialisten in den austauschbar gewordenen Fußgängerzonen nur noch bedingt. Wäre das ein Zurück zur Innenstadt wie vor 140 Jahren, als in Paris das erste Kaufhaus eröffnet wurde? Zumindest sollte man die damalige Komplexität von Innenstadt aufgreifen. Wir sehen ja, dass die Menschen große Lust haben zusammenzukommen, in Cafés zu gehen, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten. Diese starken Tendenzen muss man nutzen. Die Innenstädte müssen extrem attraktive Räume zum Aufenthalt sein. Man muss Lust haben, dort hinzugehen. Das kann natürlich auch Ausstellungen bedeuten. Oder Wohnen, gerade in einer Stadt wie Lübeck. Oder Handwerk mit gläsernen Produktionsstätten oder Showrooms. Theaterplatz ein guter Schritt: Der geplante Theaterplatz in der Lübecker Beckergrube wäre also in Ihrem Sinne? Ja. Es ist richtig, auch mal mit temporären Maßnahmen Dinge anzustoßen. Sind vor allem Klein- und Mittelstädte bedroht? Es gibt auch in den Großstädten eine große Unruhe. Solche Standorte müssen ebenfalls umdenken und attraktiver werden. Wobei Attraktivität nicht gelegentliche Events meint. Mit ein paar verkaufsoffenen Sonntagen im Jahr ist es nicht getan. Einzelhandel ist nur Teil der Innenstadt: Die Verödung der Innenstädte ist also nicht aufzuhalten, sondern nur eine Frage der Zeit? Es ist ja sehr die Frage, ob die Verödung nicht schon mit der Entwicklung gleich nach dem Krieg eingesetzt hat. Wichtig ist, dass die Perspektive des Einzelhandels mit der guten Erreichbarkeit per PKW oder langen Öffnungszeiten nicht automatisch der Perspektive der Innenstadt insgesamt entspricht. Der Einzelhandel ist nur ein Teil der Innenstadt. Da muss jede Stadt ihren eigenen Weg finden? Jeder muss seine spezifischen Potenziale prüfen. Da spielt der Verkehr eine Rolle, auch vorhandene Strukturen oder Traditionen. In Lübeck natürlich vor allem die historische Altstadt. Es werden Räume leer stehen: Wie könnte die Lübecker Innenstadt in zehn Jahren aussehen? Wenn ich eine Vision entwickeln dürfte, würde ich jetzt durch temporäre Maßnahmen Dinge ausprobieren. Das ist ein ausgesprochen guter Zwischenschritt. Der stationäre Einzelhandel wird in den nächsten zehn Jahren mehr Räumlichkeiten aufgeben, davon gehe ich aus. Da entstehen Freiräume, in die man kreativ hineinstoßen muss – vom Wohnen über Arbeit und Handwerk bis hin zu Kultur, Gastronomie und Hochschule. Und der Autoverkehr sollte so weit wie möglich draußen bleiben. Es wird große Veränderungen geben, aber darin liegen auch große Chancen. Gerade für eine Stadt wie Lübeck. Bleiben Sie auf dem Laufenden: Wir berichten über die drohende Karstadt-Schließung hier im Liveticker. Lesen Sie auch Gewerkschaften und SPD wollen für Karstadt-Beschäftigte kämpfen Liveticker +++ Schließt Karstadt in Lübeck? Diese Filialen von Galeria Karstadt Kaufhof müssen schließen Karstadt in Lübeck vor dem Aus Mindestens 62 Filialen schließen: 7500 Arbeitsplätze bei Karstadt fallen weg Von Peter Intelmann