"Lost Places" in Lübeck: Verlassene Orte in der Hansestadt

Verfall, Tristesse, Dunkelheit und ein wenig Grusel, aber auch Spurensuche nach vergangenen Zeiten, ein Stück Geschichte, angereichert um Bilder und Geschichten aus dem Kopfkino: Immer mehr Menschen suchen sogenannte „Lost Places“ auf, fotografieren oder filmen verlassene Orte oder Gebäude. Die alte Halle scheint zu leben: Die denkmalgeschützten Tudorhallen auf dem einstigen Werksgelände der Lübecker Maschinenbaugesellschaft (LMG) sind eindeutig ein solcher „Lost Place“. Vor allem die zur Trave hin gelegene Halle scheint jedoch zu leben. Zumindest sprechen die Geräusche, die durchs verrottete Holztor der Halle nach draußen dringen, dafür: Es plätschert, es raschelt, denn das Dach ist an vielen Stellen eingebrochen. Der Regen sorgt, je nachdem, auf welchen Untergrund er trifft, für unterschiedliche Geräusche. Die meisten der für den Tudor-Stil so typischen kleinen Glasscheiben, die in einen gedrungenen gotischen Spitzgiebel gefasst sind, sind geborsten, aus dem maroden Mauerwerk wachsen Birken, die im Wind rascheln. Denkmalgeschützte Schiffsbauhallen: Durchs weit geöffnet Tor fällt der Blick auf Altreifen und sogenannte „Big Bags“, aber auch auf alte Maschinen und zwei ausgemusterte Kühlschränke. Doch der Blick nach oben vermittelt, wie bei den beiden anderen Hallen auf dem Gelände, einen Eindruck der einstigen Schönheit dieser Schiffsbauhallen und mechanischen Werkstätten vom Beginn des 20. Jahrhunderts: Mit ihren vielen Fenstern und zeltförmig aufs Dach gesetzten Oberlichtern müssen sie einst lichtdurchflutet gewesen sein. Tierpark und Schlachthof sind „Lost Places“: Ganz gleich, ob es um das einstige Lübecker Tierpark-Gelände in Israelsdorf oder den ehemaligen Schlachthof geht: Gemeinsam ist den Orten, dass sie von Menschenhand als Arbeits- oder Wohnort geschaffen wurden – und dass die Natur sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr davon zurückerobert hat. Das macht den Charme der „Lost Places“ aus. Alle „Lost Places“ gehören irgendwem, sind also in staatlichem oder Privatbesitz. Das heißt: Wer auf die Grundstücke oder gar in verlassene Gebäude gehen will, sollte im Zweifel den Eigentümer ausfindig machen und sich eine Genehmigung holen. Sonst muss er mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruchs rechnen. Auf gar keinen Fall sollte man über Zäune und Mauern klettern oder Hinweisschilder wie „Betreten verboten“ ignorieren. Außerdem sind die Gebäude oft einsturzgefährdet – deshalb geschieht das Betreten auf eigene Gefahr. Auf jeden Fall tabu ist alles, was in Naturschutzgebieten abseits der Wege liegt. Niemand sollte allein oder bei Nacht auf Erkundungstour gehen. Es ist zu empfehlen, sich festes Schuhwerk anzuziehen und auf alle Fälle eine Taschenlampe mitzunehmen, bei besonders maroden Gebäuden auch einen Helm. Unbedingt vermieden werden sollte gewaltsames Eindringen mit irgendwelchen Hilfsmitteln oder durch das Einschlagen von Scheiben. Passionierte „Lost-Places“-Abenteurer verraten ungern die genauen Standorte ihrere Entdeckungen. Trotzdem finden sich in den sozialen Medien oft Hinweise. Und nicht nur dort: Wer bei seiner nächsten Deutschlandreise „Lost Places“ erkunden möchte, findet die „Top 15“ online im Magazin „Ab in den Urlaub“. Einstiger Party-Hotspot im Wesloer Wald: Viel Natur, nämlich Wald, ist rings um die aufgegebene Gaststätte „Schlutuper Tannen“ zu finden. Auf den ersten Blick sieht das weiße Haus gar nicht übel aus, doch bei näherem Hinsehen zeigt sich: Die Klingelschilder sind abmontiert, die Info-Kästen neben dem überdachten Eingang sind leer, der kleine Balkon in der ersten Etage bröckelt, Reste eines rot-weißen Flatterbandes hängen am Eingang. In einem Fenster hängt ein Schild mit der Aufschrift „zu vermieten“ und eine Telefonnummer. Wer ums Gebäude herum geht, sieht einen Kellerzugang mit weit offener Tür, durch die ein altes Badezimmer, ein Schlafzimmer und ein großes Loch in der nächsten Tür zu erkennen sind. Außentreppen sind vermoost und bröckeln, durch die Fenster sind gestapelte Stühle zu erkennen. Fasching, Tanztee und mehr: Die „Schlutuper Tannen“ waren einst ein weithin bekannter und beliebter Ort: Ältere Lübecker erinnern sich noch an die legendären Studenten-Faschingspartys, bei denen, wie ein Teilnehmer sagt, gerne auch auf den Tischen getanzt wurde. Hier traten Schlagerstars auf und Bands wie die Koasters aus Lübeck, hier traf man sich zum Tanztee, hier verkehrten örtliche Vereine – in den „Schlutuper Tannen“, erzählt Jörg Iwan, der die Gaststätte 1970 bis 1983 betrieb, „war immer viel los und gute Stimmung“. Später war die Gaststätte ein reines Restaurant. 2010 ging es in die Insolvenz. Viel zu entdecken in Schlutup: Die Gaststätte befindet sich in der einstigen Kantine der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken (DWM) und der Maschinen für Massenverpackungen (MfM), die im Dritten Reich entstanden und in denen Zwangsarbeiter schufteten. Wer gutes Schuhwerk und ein wenig Ausdauer mitbringt, entdeckt links und rechts der Wesloer Straße viele „Lost Places“ in Form von einstigen Bunkern und Munitionslagern. Bei dem düsteren Hintergrund ein eher gruseliges Unterfangen. Lesen Sie auch Lübeck: Gedenken an Brandanschlag in der Hafenstraße Lübeck: Stadt räumt ehemaliges C&A-Haus Lübeck: Rocker vor der Villa am Burgfeld verhaftet Ein kleiner, noch recht junger verlassener Ort: Da ist das kleine Haus in der Willy-Brandt-Allee, das im Oktober aus Solidarität mit dem Berliner „Liebig 34“ kurz besetzt worden war, doch ein deutlich weniger belasteter verlassener Ort. Das Dach des komplett umzäunten Hauses, das zwischen Straße und Brücke wie eingequetscht wirkt, sieht noch okay aus, die weiße Fassade ist jedoch mit Graffiti verschmiert, an vielen Stellen sind Löcher im Putz zu sehen, die wie Einschüsse wirken, die Fenster sind mit Sperrholz vernagelt. Unmittelbar neben dem Zaun stapeln sich alte Einkaufswagen und Gerümpel. Manchmal reichen für einen „Lost Place“ schon wenige Jahre. Von Sabine Risch