Lübeck 1832: Die große Cholera-Pandemie

Die Seuche kommt aus Asien, und ganz Europa hat Angst. Keine Region kann sich sicher fühlen. Bewaffnete Posten am Niendorfer Ostseestrand hindern Schiffe am Anlanden und kontrollieren Fischer scharf. Wer sich nicht an die Vorschriften hält, wird in eine Scheune gesperrt. Gesundheitskommissionen inspizieren die Sauberkeit der Wohnhäuser im Fürstentum Lübeck (heute: südliches Ostholstein), Reisende müssen Gesundheitspässe vorzeigen. In Lübeck schlägt die Seuche erbarmungslos zu: Auf dem Land scheinen die Maßnahmen einen gewissen Erfolg zu haben. Aus dem Eutiner Land werden keine hohen Opferzahlen berichtet. In der dicht besiedelten Hansestadt aber schlägt die Cholera erbarmungslos zu. Im Juni 1832 fährt ein Lübecker Wollsortierer, der in einer Lotterie gewonnen hat, nach Hamburg, um sich ein paar schöne Tage zu machen. Am 13. Juni kommt er zurück in die Heimat. Am 15. Juni ist er tot. In den nächsten Wochen breitet sich die Cholera in der Stadt aus. Wie das geschieht, gibt den Ärzten Rätsel auf. Kontakt zu den Kranken scheint eine Rolle zu spielen, aber es sterben auch Menschen, die nicht erkennbar mit Infizierten in Berührung gekommen sind. Schutzmaßnahmen sind wirkungslos: Auch Lübeck hat seine Schutzmaßnahmen ergriffen, angefangen mit einer Verfügung vom Mai 1831, nach der „alle aus den russischen Ostsee-Häfen ankommenden Schiffe“ mit Gesundheitsattesten versehen sein müssen. Sie nützen nichts: 1431 Erkrankte verzeichnet die amtliche Statistik für das Jahr 1832 – bei etwa 25 000 Einwohnern. Mehr als die Hälfte davon, 786 Menschen, stirbt. Dabei breitet die Pandemie sich, verglichen mit heute, in gemächlichem Tempo aus. 1830 bringen russische Soldaten von der indischen Grenze den Erreger nach Polen. Ende 1831 ist Hamburg betroffen, im Sommer 1832 Lübeck. Die Menschen reisen in dieser Zeit noch wenig, und die meisten Waren werden regional gehandelt. Die Menschen sehen die Seuche lange vorher kommen, aber sie können sie nicht aufhalten. Abgesperrtes Dorf bei Lübeck: Die Cholera ist für Europa neu. Dass die Isolation der Kranken wichtig sein könnte, erkennen einige Zeitgenossen durchaus. „In einem nahe bei Lübeck gelegenen Dorfe“, schreibt ein Wiener Cholera-Arzt 1832, „(...) erkrankte ein Israelit an der Cholera, wurde streng abgesperrt, und das Dorf ist frei von der Krankheit geblieben; dagegen hat sie sich in einem Fischerdorfe bei Lübeck, wo keine polizeilichen Vorkehrungen getroffen wurden, sehr ausgebreitet.“ Solche Erkenntnisse tauschen die Zeitgenossen von August 1831 bis November 1832 in der „Allgemeinen Cholera-Zeitung“ aus. Sie erscheint zweimal wöchentlich in einem Leipziger Verlag und enthält Berichte, Briefe, Aufsätze, Literaturlisten, Rezensionen und amtliche Bekanntmachungen zu dem Thema, das nicht nur die Fachwelt in Atem hält – eine Art soziales Netzwerk der Gelehrten. Ärzte tappen im Dunkeln: Später einmal werden die Cholera-Pandemien des 19. Jahrhunderts als Geburtsstunde der modernen Epidemiologie (Seuchenforschung) gelten. Aber 1832 kann davon noch keine Rede sein. Die wissenschaftliche Medizin steht noch am Anfang. Die gängigen Therapien – darunter Aderlass oder Flüssigkeitsentzug – sind nach heutigen Maßstäben die reinste Quacksalberei, und bei der Ursachenforschung tappen die Experten im Dunkeln. Noch 1861 muss der Lübecker Arzt Dr. med. Emil Cordes in der Abhandlung „Die Cholera in Lübeck“ zugeben, dass die Cholera für ihn eine „bis jetzt höchst rätselhafte Krankheit“ sei. Er vermutet chemische Substanzen als Ursache: das „Contagium“, das sich von Mensch zu Mensch verbreitet, und das „Miasma“, das im Boden lauert. Neue Erkenntnisse verbreiten sich langsam: Zu dieser Zeit könnte sich die Jahrtausende alte Miasma-Theorie eigentlich schon erledigt haben. Mitte der 1850er Jahre haben englische Forscher nachgewiesen, dass die Cholera durch verunreinigtes Trinkwasser übertragen wird, und sie sind auch schon dem Krankheitserreger, einem Bakterium, auf der Spur. Aber Mitte des 19. Jahrhunderts ist nicht nur das Reisen langsamer und beschwerlicher als heute. Auch die neusten Erkenntnisse der Wissenschaft brauchen Jahre, um sich durchzusetzen. Die Pandemie und der Burgtorfriedhof: Jede Pandemie hinterlässt Spuren – im Denken und Fühlen, in der Kunst, und manchmal auch im Stadtbild. Die sichtbarste Spur der Cholera von 1832 in Lübeck ist der Burgtorfriedhof. Auf dem Höhepunkt der Seuche in Lübeck, am 18. Juli 1832, verfügt der Senat, dass „innerhalb der Stadt überall keine Leichen (...) beerdigt werden dürfen“. Das ist die Geburtsstunde des neuen Friedhofs. Er wird zunächst provisorisch eingeweiht und 1834 zum dauerhaften Begräbnisplatz erklärt. Lesen Sie auch: Interview mit einem Medizinhistoriker: „Ohne Cholera so früh keine Kanalisation“ Erzählt mir von der Pest – Seuchen in der Literatur Von Hanno Kabel

Geschichte - Lübeck 1832: Im Zeichen der Pandemie