Lübeck 2020: Karstadt und die Innenstadt im Rückblick

Am 19. Juni, einem Freitag, schließen die beiden Karstadt-Häuser in Lübeck überraschend um 13.30 Uhr – „aus organisatorischen Gründen“, wie an den Eingangstüren zu lesen ist. Wenig später sickert die Nachricht durch: Der Konzern Galeria Karstadt Kaufhof will 62 Häuser in Deutschland schließen, darunter fast alle in Schleswig-Holstein, und darunter auch Karstadt und Karstadt Sports in Lübeck. Das verkündet die Geschäftsführung den Mitarbeitern an diesem Nachmittag auf einer Versammlung. 136 Jahre Karstadt in Lübeck: Es ist ein Schlag in die Magengrube für die 180 Mitarbeiter der beiden Häuser. Es ist aber auch ein Schlag für die Innenstadt. Geschäftsleute und Bürger zeigen sich schockiert. Schon zum Ende Oktober soll Karstadt in Lübeck der Vergangenheit angehören – 136 Jahre, nachdem der mecklenburgische Kaufmann Rudolph Karstadt in Lübeck die erste Filiale seines Wismarer Warenhauses eröffnete. Karstadt Sports wird ausverkauft: Für das Karstadt-Sports-Haus kommt das Ende sogar schneller als angekündigt: Schon Mitte Oktober ist der Ausverkauf abgeschlossen, und das Haus schließt. Für das Warenhaus nebenan gibt es einen Aufschub: Um das Weihnachtsgeschäft noch mitzunehmen, verlängert der Konzern die Galgenfrist bis Ende Januar. Lesen Sie auch Thema: Karstadt Lübeck - Nachrichten und Informationen im Überblick Bis zu 60 Prozent weniger Autos in der Lübecker Beckergrube Lichthof Lübeck: Bürgerservice öffnet Donnerstag in der Königpassage Wirtschaftsminister gibt Karstadt Lübeck keine Chance: Der Betriebsrat und Bürgermeister Jan Lindenau (SPD) geben unterdessen die Hoffnung nicht auf und versuchen, Kontakt zum Karstadt-Konzern und zu Highstreet, dem Eigentümer der Lübecker Karstadt-Immobilien, aufzunehmen. Aus der Kieler Landesregierung kommt dafür keine Unterstützung: Wirtschaftsminister Bernd Buchholz (FDP) erklärt schon Ende Juni nach einer Videokonferenz mit Vertretern des Konzerns den Karstadt-Standort Lübeck für chancenlos. Rettung für Karstadt Lübeck: Im Oktober übernimmt die Frankfurter Immobiliengesellschaft RFR Holding die Gebäude. Jetzt kommt hinter den Kulissen Bewegung in die Sache. Im Brennpunkt aller Gespräche steht die hohe Miete. Kurz vor dem Nikolaustag kommt dann die Sensation. Am 4. Dezember um 9 Uhr morgens verkündet Konzernchef Miguel Mühlenbach per Video-Schalte den Mitarbeitern: Das Karstadt-Warenhaus in Lübeck ist gerettet. „Das hat eingeschlagen wie eine Bombe“, sagt die Betriebsrätin Karin Kinnert. Diesmal aber zerstört die Bombe nicht Hoffnungen, sondern Ängste. Einzelhandel in der Innenstadt schrumpft: Nach Aussage von Bürgermeister Jan Lindenau haben sich Konzern und Immobiliengesellschaft auf eine deutlich geringere Miete geeinigt. Wird nun alles gut? Nicht für die ehemaligen Mitarbeiter von Karstadt Sports. Ihr Haus bleibt geschlossen. Und auch für die Innenstadt als Einzelhandels-Standort ist die Karstadt-Rettung nur eine Atempause. Der Trend ist eindeutig, nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie: Zwischen 2009 und 2018 ist die Verkaufsfläche des Einzelhandels in der Innenstadt um 15,5 Prozent geschrumpft. 100 Geschäfte gingen verloren. Seitdem sind noch weitere Leerstände hinzugekommen, unter anderem in der Top-Lage Breite Straße. Neues Servicebüro im Lichthof: „Einkaufen wird immer Bestandteil der Innenstadt sein“, sagt Bürgermeister Jan Lindenau den LN nach der Karstadt-Rettung, „aber nicht mehr so ausschließlich wie früher.“ Ein gutes Beispiel dafür ist der Lichthof, die frühere Königpassage, in dem seit Jahren große Flächen leerstehen: Im Juni eröffnet die Stadt dort auf 7700 Quadratmetern ihr größtes Servicebüro. Versuch: Verkehrsberuhigte Beckergrube: Neue Wege geht die Stadt auch an der Beckergrube und dem nördlichen Abschnitt der Breiten Straße. Im Mai beginnt zwischen Fünfhausen und Koberg ein Verkehrsversuch: Tempo 20, Verbannung des Durchgangsverkehrs, neue Gestaltung mit großen, roten Sitzmöbeln und Begrünung, zusätzliche Fahrradständer. So soll vor dem Theater Lübeck ein städtischer Platz entstehen. Nach Zählungen der Stadt vermindert sich bis Ende September der Autoverkehr um 60 Prozent. Der Versuch ist auf ein Jahr angelegt. Eins aber wissen alle, die sich mit der Innenstadt befassen: Solange die Corona-Pandemie anhält, ist nichts vorhersagbar. Keine zwei Wochen nach der erlösenden Karstadt-Nachricht werden die Corona-Regeln wieder verschärft, und der Einzelhandel schließt seine Türen bis zum 10. Januar. Von Hanno Kabel