Lübeck: Aufstieg und Fall der Orgelbaufirma Kemper

Der Name Kemper hatte einen Ruf. Groß und wohltönend wie der Klang der neuen Marienorgel, die am ersten Adventssonntag 1968 mit einem großen Festkonzert eingeweiht wurde. Die Lübecker Orgelbaufirma hatte das weithin beeindruckende Instrument gebaut – ein Ausrufezeichen norddeutscher Orgelbaukunst in dritter Generation. Die neue Kemper-Orgel in St. Marien galt zu dieser Zeit als größte mechanische Orgel der Welt: fünf Manuale, 100 Register, 8512 Pfeifen; die längste elf Meter hoch. Zehn Jahre später war der 1868 gegründete Familienbetrieb pleite. Mehr als 100 Jahre Kemper-Orgelbau in Lübeck: Die Geschichte der Lübecker Orgelbauer ist eine von Kunst und Können, von Aufstieg und Fall, und sie begann mit Emanuel (Philipp) Kemper, dem 1844 geborenen Sohn eines Lübecker Musiklehrers. Nach einer Tischlerlehre ließ sich Kemper bei der renommierten dänischen Firma Marcussen & Søn im Orgelbau ausbilden, lernte das Orgelspiel beim Jakobi-Organisten Johann Jochim Diedrich Stiehl und arbeitete für den Lübecker Orgelbauer Theodor Vogt, dessen Firma er 1868 übernahm – und mit der Nachfolge auch die Verantwortung für die Pflege fast aller Orgeln Lübecks. Emanuel Kemper: Organist, Orgelbauer, Chorleiter: Emanuel Kemper war ein Mann von bürgerlichem Fleiß und Pflichtgefühl; er leitete den Lübecker Liederkranz, später den Männerchor, bediente an Kirchenfesttagen das Glockenspiel von St. Marien. Sein Amt als Organist der Jakobikirche, das er von Stiehl übernommen hatte, gab Emanuel Kemper 1930 nach 58-jähriger Amtszeit mit 87 Jahren an seinen von ihm bestimmten Nachfolger Hugo Distler ab. Im „Lübeckischen Jahrbuch“ heißt es zu seinem Abschied, Kemper habe nur „ein einziges Mal wegen Unwohlseins seinen Dienst nicht verrichten können“ und sich nie vertreten lassen. In der Nordkirche existieren heute noch etwa 100 Kemper-Orgeln, darunter das seinerzeit größte Instrument in der Lübecker Marienkirche. Sie soll durch einen Orgelneubau ersetzt werden. 1916 ersetzte Firmengründer Emanuel Kemper die Orgel der Lübecker Aegidienkirche hinter dem historischen Prospekt durch einen Neubau. Karl Kemper baute das Instrument 1939/1940 um. Die große Orgel der Jakobikirche in Lübeck baute Karl Kemper 1935 ebenfalls um, nach 1957 erweiterte Emanuel Kemper jun. sie um ein viertes Manual. Die eigene Firma hatte er da schon in die Hände seines Sohnes gegeben. Karl Reinhold Kemper übernahm die väterliche Firma mit 30 Jahren – und hatte unter Kollegen und Konkurrenten bald den Namen „Karl, der Kühne“ weg. Als erster deutscher Orgelbaumeister setzte er auch im Orgelneubau wieder mechanische Traktur und Schleifenladen ein und orientierte sich in Handwerkskunst und Klanggebung an den norddeutschen Orgeln des Frühbarock. Orgelbauboom der Wirtschaftswunderjahre: „Die Barockorgeln waren obertöniger als die romantischen Orgeln des 19. Jahrhunderts“, erklärt der Lübecker Orgelbauer Reinalt Klein. „Sie hatten einen schärferen, aber sehr schönen Klang – dorthin wollte man wieder zurück und mit modernen Mitteln des Orgelbaus an den barocken Klang anschließen.“ Karl Kemper habe sich da verdient gemacht und viele historische Orgeln aus dem 17./18. Jahrhundert nach den damaligen Vorstellungen des Barock restauriert. Mit seinem mutigen Eintreten für die Barockorgel“, schrieben die Lübeckischen Blätter 1956, habe Karl Kemper einen „entscheidenden Anstoß gesetzt für Orgelbauer, die ihm folgten“. Das Unternehmen prosperierte, beschäftigte in seiner Blütezeit 140 Mitarbeiter. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs setzte in den Wirtschaftswunderjahren ein regelrechter Orgelbauboom ein. Die Aufträge kamen aus Berlin, Mainz, Rom, Russland, Luxemburg, Skandinavien. Häufig erwiesen sich zudem die nun verwendeten modernen Materialien – Kunststoffe, Aluminium, Stahl, Plattenwerkstoffe – Jahrzehnte später als nicht so haltbar wie erhofft. Die Marienorgel – der letzte große Triumph: Emanuel Magnus Kemper, der 1944 in das Familienunternehmen einsteigt und es 1957 übernimmt, verpasst eine rechtzeitige Abkehr von der extrem hellen neobarocken Klanggebung, die den Orgelbau der Nachkriegszeit prägte. Der Bau der Marienorgel, ein Paradebeispiel des neobarocken Orgelbaus, ist der größte, aber auch letzte große Triumph der Lübecker Orgelbauer. Danach geht es bergab, der Auftrag für die neue Domorgel in Lübeck geht 1970 an den dänischen Konkurrenten Marcussen, Kemper bekommt kaum noch Aufträge. „Die Firma Kemper ist mit dieser Art eines technokratischen, neobarocken Orgelbaus letztendlich gescheitert – nicht an der handwerklichen Qualität, denn die war nach wie vor tadellos, aber am Klangstil“, beschreibt Reinalt Klein die Gründe für den Niedergang der traditionsreichen Lübecker Orgelbaufirma. „Kemper hatte eine große Zahl von Mitarbeitern, die perfekt umsetzten, was sie einmal gelernt hatten, und die Firma hat ihren Stil des neobarocken Orgelbaus, der inzwischen aus der Mode gekommen war, immer weiter durchgezogen und es nicht vermocht, sich einer Rückbesinnung auf den Klang historischer Orgeln anzupassen, da gab es vermutlich enorme Widerstände. Das ist wie ein großes Schiff, das lässt sich auch nicht so schnell umlenken – eine traurige Geschichte“, sagt Klein. Kemper geht in Konkurs: 1978 muss der vierte Orgelbauer der Familie, Emanuel Reinhold Kemper, nur vier Jahre nach Übernahme der Geschäfte Konkurs anmelden. In einem Gutachten zur Wirtschaftlichkeit der Firma, die zu diesem Zeitpunkt mit 1,3 Millionen DM im Soll steht, heißt es: „In den 50er Jahren war die Firma Kemper Schrittmacher im deutschen Orgelbau. (. . .) Inzwischen ist (sie) auf ihren Lorbeeren eingeschlafen.“ Man habe sich nicht um Aufträge bemüht, Auftraggeber vor den Kopf gestoßen, gegenüber Kirchengemeinden ein hochmütiges Verhalten an den Tag gelegt, Kundenkartei und Kundenkontakte nicht gepflegt. Neue Töne in der Orgelstadt Lübeck Petri-Kirche: Große Spende für die neue Orgel von Niendorf Harter Sparkurs für die Kirchenmusik in Lübeck: Weniger Stellen für Musiker und Pastoren Am 7. Juli 1978 wird das Konkursverfahren eröffnet, am 16. April 1980 wird die traditionsreiche Orgelbaufirma aus dem Handelsregister Lübeck gelöscht. Heute sind fast alle Spuren des Unternehmens getilgt, in Rauch aufgegangen. Emanuel Kemper soll nach dem Konkurs alle Firmenunterlagen und das große Materiallager des Unternehmens verbrannt haben. Von Regine Ley