Lübeck: Bilder von Palmarum 1942 in Tresor im Rathaus gefunden

Mitte August rückten die Panzerknacker ins Rathaus ein – in Gestalt von Technikern aus der Landespolizeischule Eutin. Im Rahmen einer Trainingseinheit knackten sie zwei alte Tresore in der Pförtnerei. Dabei kamen, ganz unerwartet, historische Dokumente zur Bombardierung Lübecks 1942 zum Vorschein. Vor einem Jahr: Münzen im Tresor: Die beiden Tresore sind jeweils etwa 2,50 Meter hoch und 1,50 Meter breit. Die Türen sind so dick wie ein Oberarm. Vermutlich wurden die Tresore Anfang des 20. Jahrhunderts als Kassenschränke angeschafft. Zuletzt geöffnet wurden sie 1992. Damals enthielten sie das Senats-Silber, das zu besonderen Anlässen verwendet wurde. Es wird seitdem im St.-Annen-Museum verwahrt. Die Schlüssel zu den Tresoren gingen verloren. Im vergangenen Jahr waren schon einmal zwei Tresore im Rathaus geöffnet worden, und dabei waren immerhin Gold- und Silbermünzen zum Vorschein gekommen. Von den Tresoren in der Pförtnerei erwartete man nicht viel. „Ich habe gar nicht mitgekriegt, wie sie geöffnet wurden“, sagt Bürgermeister Jan Lindenau. „Hinterher wurde mir erzählt: ,Da war doch was drin, komm mal runter!’“ Fotos von 1942: Rauchende Türme der Marienkirche: Diesmal war der Fund ein erstaunliches Dokument der Stadtgeschichte: eine edel gestaltete Schatulle mit der Aufschrift „Lübeck vor und nach dem Angriff in der Nacht vom 28. zum 29. März 1942“. Darin liegen auf Zeichenkarton geklebte Fotos, die die Innenstadt vor und nach der Bombardierung zeigen. Dazu eine Karte, die den Grad der Zerstörungen dokumentiert, und eine Liste der Zerstörungen in den einzelnen Kirchen. Wer die Fotos gemacht hat, ist unbekannt. Sie müssen jedenfalls kurz nach dem Angriff entstanden sein. Der Markt liegt voller Trümmersteine, aus denen Eisenträger hervorragen. Aus dem Süderturm der Marienkirche dringt noch Rauch. Historischer Wert der Fotos: Bilder vom zerstörten Lübeck gibt es viele – in Büchern, Archiven, privaten Fotoalben. Trotzdem sagt Lokers: „Diese Bilder haben einen sehr hohen historischen Wert. Jedes Foto erweitert unsere Kenntnis. Wenn man zum Beispiel ein Kataster der Zerstörungen erstellen würde – da ist jedes Foto wichtig.“ Britische Bombergriffen Lübeck in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 an. Der 29. März war Palmsonntag (Palmarum, der Sonntag vor Ostern), deswegen wird „Palmarum“ in Lübeck oft als Synonym für den Angriff verwendet. Es war das erste Flächenbombardementdes Zweiten Weltkriegs auf eine große deutsche Stadt. Er richtete sich vor allem gegen die eng bebaute Innenstadt, aber auch die Vorstadt St. Lorenz war betroffen. Mehr als 300 Menschen starben, etwa 800 wurden verletzt, mehr als 15 000 waren danach obdachlos. Die Altstadt war zu etwa zwei Fünfteln zerstört. Von weiteren Angriffen blieb die Altstadt verschont, weil Lübeck dank einer Initiative des Bankiers Eric Warburg und des Diplomaten Carl Jakob Burckhard zum Umschlaghafen für Paketsendungen an Kriegsgefangene wurde. Luftangriffe auf Rüstungsbetriebein Lübeck gab es auch danach. Im August 1944 starben dabei zwischen Torneiweg und Trave mehr als 100 Menschen, ein großer Teil davon Zwangsarbeiter. Der Zweck war Propaganda: Der Zweck dieser Zusammenstellung allerdings war ein ganz anderer. Der Auftrag für die Dokumentation kam vom Reichsverteidigungskommissar für den Wehrbezirk X, zu dem Schleswig-Holstein gehörte. Menschen sind auf den Bildern nicht zu sehen. „Es sind nur Gebäude“, sagt Jan Lokers, Leiter des Stadtarchivs. „Man sieht kein Leid, keine Verletzten, keine Toten.“ Er ist sicher: Diese Dokumentation diente dazu, die Funktionäre von Partei und Staat auf die nationalsozialistische Lesart des Bombenangriffs einzustimmen. Alles, was Lübeck voranbringt: Jeden Montag gegen 18 Uhr in Ihrem E-Mail-Postfach. Hier kostenlos den Newsletter „Lübeck next“ bestellen! „Die Bombardierung war auch für die Nazis ein Schock“: Lübeck war die erste große Stadt in Deutschland, die mit einem Flächenbombardement belegt wurde. „Das war auch für die Nationalsozialisten ein einschneidendes Erlebnis, ein Schock“, sagt Lokers. „Diese Dokumentation hat eindeutig einen Propagandazweck. Sie soll zeigen: ,Diese englischen Kulturbarbaren haben diese wertvolle Altstadt zerstört.’ Ganz klar ging es um Anklage. Gleichzeitig hat man damit verbunden, den Durchhaltewillen zu stärken.“ Die zehntausenden Toten der deutschen Bombenangriffe auf London schon 1941 würden in dieser Lesart nicht erwähnt. Für die Präsentation des Fundes hat Jan Lokers andere Bücher und Archivalien zum Bombenangriff 1942 auf den großen Tisch im Lesesaal des Archiv gelegt – um jenseits der Propaganda den historischen Zusammenhang herzustellen. Darunter ist ein nüchternes Geschäftsdokument: eine Bestellung von 150 Särgen. Von Hanno Kabel