Lübeck: Bürgerinitiative kämpft gegen AKW-Schutt in Niemark

250 Tonnen AKW-Bauschutt aus Brunsbüttel könnten bald fast vor der Haustür von Familie Aßheuer, Familie Neumann und Familie Lehnen abgeladen werden. Das Atomkraftwerk in Brunsbüttel wird zurückgebaut, Umweltminister Jan Philipp Albrecht (Grüne) muss einen Platz dafür finden. Laut Lübecks Umweltsenator Ludger Hinsen (CDU) wird es immer wahrscheinlicher, dass eine Zuweisung noch in diesem Jahr kommen könnte und dass die Wahl tatsächlich auf die Deponie Niemark fällt. Niemark liegt in der Nähe der Neubaugebiete Rothebek I und II, in denen gerade viele junge Familien Häuser bauen. Als Schleswig-Holsteins Umweltminister im September ankündigte, im Zweifelsfall zuzuweisen, auf welcher Deponie der Atomschutt gelagert wird, hatte Marieke Lehnen genug. Zusammen mit jungen Familien aus den Neubaugebieten Rothebek I und II gründete sie eine Initiative und brachte eine Petition auf den Weg. Inzwischen haben rund 1300 Menschen unterschrieben. Ärzte schließen gesundheitliche Schäden nicht aus: Sie fordern das Umweltministerium dazu auf, auf die angedrohte Zwangszuweisung zu verzichten oder zumindest die Haftung für etwaige gesundheitliche oder materielle Schäden zu übernehmen. Eigentlich ist der Schutt „freigemessen“, sollte also kein gefährliches Maß an radioaktiver Strahlung mehr abgeben. Mediziner aber schließen eine gesundheitliche Gefährdung auch dann nicht aus: „Als Ärzte weisen wir darauf hin, dass es keine Schwellenwerte für die Unbedenklichkeit von ionisierender Strahlung gibt und auch durch vermeintlich geringe Strahlenmengen gesundheitliche Schäden und Spätfolgen über Generationen entstehen können“, hieß es auf dem 120. Deutschen Ärztetag 2017. Darauf beruft sich die Initiative gegen die Lagerung von Atomschutt in Niemark. Außerdem sollen alternative Lageroptionen für den Atomschutt geprüft und der Entscheidungsprozess transparenter gestaltet werden. Zusammenarbeit mit Initiative aus Harrislee: Gegründet haben die jungen Familien die Bürgerinitiative, weil sie selbst unmittelbar davon betroffen wären, wenn die Deponie Niemark den AKW-Schutt einlagern müsste. Die Neubaugebiete Rothebek I und II, in denen sich die Initiatoren ihren Traum vom Eigenheim erfüllen möchten, liegt etwa vier Kilometer entfernt von der Deponie. Wenn Niemark den AKW-Schutt aufnehmen müsste, wären sie unmittelbar betroffen. Auch einen Wertverlust der Grundstücke schließen sie mittelfristig nicht aus. 10 Mikrosievert pro Jahr – diese Strahlenbelastung darf maximal vom Schutt eines zurückgebauten Atomkraftwerks ausgehen, bevor er auf einer konventionellen Deponie gelagert werden darf. Laut der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) geht dann kein Gesundheitsrisiko mehr von dem Material aus, es muss nicht mehr von einer staatlichen Behörde kontrolliert werden. Zum Vergleich: Die Belastung durch natürliche Strahlungsquellen, zum Beispiel durch kosmische Strahlung, liegt bei 2100 Mikrosievert im Jahr. Anti-Atomkraft-Initiativen stellen das Berechnungsverfahren für diesen Grenzwert infrage. Aber: Thomas Aßheuer betont, dass es der Initiative nicht in der Hauptsache darum geht, dass der Müll aus dem Atomkraftwerk Brunsbüttel woanders als auf der Deponie in Niemark gelagert wird. Deshalb haben sich die Initiatoren mit einer Gruppe aus Harrislee im Kreis Schleswig-Flensburg vernetzt. Der Abfallhof der Gemeinde steht ebenfalls auf der Liste der möglichen Lager für den AKW-Schutt. Ende Oktober haben dort 1500 Menschen dagegen demonstriert. „Die Menschen dort engagieren sich schon seit vier Jahren, dementsprechend ist auch die Bürgerinitiative dort viel größer. Von denen können wir viel lernen“, erklärt Thomas Aßheuer. Suche nach Lager für AKW-Schutt „deutschlandweites Problem“: Vor allem geht es ihnen darum, Alternativen zu finden, wie der AKW-Schutt anders gelagert werden könnte als auf einer Hausmülldeponie. Zuerst einmal solle der Schutt nicht nach Freimessung und Ablagerung nicht aus der Atomaufsicht entlassen, sondern weiter auf etwaige Strahlung überprüft werden. Mike Neumann bringt Bunker als möglichen Lagerort ins Gespräch, genauso wie das „französische Modell“. Lesen Sie auch: Wie gefährlich ist das AKW-Material wirklich? Politiker streiten über Zwangsdeponierung AKW-Bauschutt nach Lübeck: Streit in der CDU Der Hintergrund: In Frankreich wurde im Dorf Morvilliers im Osten des Landes ein eigenes Lager für gering radioaktive Abfälle geschaffen. Die Abfälle sind in korrosionsbeständige Behälter verpackt. Die zehn Meter dicke Tonformation, auf der das Lager errichtet wurde, sichert den Schutt entsprechend ab. Außerdem wird der Standort von einer staatlichen Behörde überwacht. Einig sind sich die Initiatoren darin: Eine Lösung muss her. „Die Suche nach einem geeigneten Standort ist ein deutschlandweites Problem“, betont Mike Neumann. Und wenn Niemark als Lagerstätte für den AKW-Schutt auserkoren würde, betreffe das auch mindestens alle Lübecker. Hohe Erwartungen an Kommunalpolitik: Die Lübecker Bürgerschaft hat Ende November 2019 dagegen gestimmt, dass AKW-Bauschutt auf der Deponie Niemark gelagert wird. Umweltsenator Ludger Hinsen (CDU) teilte den Politikern jedoch kürzlich mit, dass er mit einem Zuweisungsbescheid noch in diesem Jahr rechnet. Hinweise darauf, dass es tatsächlich den Lübecker Abfallhof treffen könnte. Die Mitglieder der Bürgerinitiative setzen jetzt darauf, dass das Stadtparlament auch bei seiner Haltung bleibt und dem Abstimmungsergebnis Taten folgen lässt. Franziska Neumann richtet ihren Appell direkt an Jan Lindenau: „Ich fordere den Bürgermeister dazu auf, sich öffentlich zu diesem Thema zu äußern und alles zu tun, den Bürgerschaftsbeschluss in die Tat umzusetzen“, auch, damit Lübeck als Wirtschafts- und Tourismusstandort attraktiv bleibt. Immerhin, ergänzt Neumann, habe Lindenau die Facebook-Seite der Bürgerinitiative abonniert. Von Sophie Schade