Lübeck: Das erleben Gehbehinderte auf dem Weg in die Altstadt

Marcel Albrecht sitzt seit Kindheit im Rollstuhl. Seine Muskulatur ist Herausforderungen gewohnt. Sein 6000 Euro teures Gefährt ist wendig und leicht. „Jetzt wird es anstrengend“, stößt der junge Mann hervor, als er sich die Dr. Julius-Leber-Straße hinaufschiebt. Das letzte Stück vor der Kreuzung zur Königstraße ist mit einer Steigung versehen, die auch von Uta Kork vollen Einsatz abfordert. Die 73-Jährige ist seit einer Operation auf den Rollator angewiesen. Der linke Arm will nicht mehr so. Die zierliche Frau kommt ins Schwitzen. Und das liegt nicht nur an den gefühlten 30 Grad Celsius in der Lübecker Innenstadt. Arztbesuch, Einkaufen, Behördengang in der Innenstadt – wie ist das eigentlich für Menschen mit Gehbehinderung? Die LN baten den Behindertenbeirat um ein Experiment. Christian Rettberg, Vorsitzender des noch jungen Gremiums, organisierte die Probanden. Kennen Sie schon unsere neue Facebook-Gruppe „Verkehr in und um Lübeck – alle News, alle Infos“? Hier können Sie sich mit uns und anderen Usern in einem geschützten Rahmen zu diesem Themenbereich austauschen und vernetzen. Mit dem Rollator traut sie sich nicht in den Bus: 10 Uhr, Treffpunkt an der Ecke Kanalstraße/Dr. Julius-Leber-Straße. Marcel Albrecht wird von einem Fahrdienst gebracht, fährt sonst aber mit dem Stadtverkehr. Uta Kork wohnt in der Nähe des Brinks, traut sich mit dem Rollator nicht in den Bus und geht immer bis zur Mühlenstraße. „Wenn ich dann wieder nach Hause zurückkehre, bin ich echt geschafft“, sagt die 73-Jährige. Christian Rettberg hat sie mit dem Auto zum Ortstermin gebracht. Erstes Problem: Alle Behindertenparkplätze in der Nähe des Treffpunkts waren besetzt. Rettberg: „Wir mussten ein ganzes Stück laufen.“ 10.15 Uhr: Der Feldversuch startet. Mit den Übergängen sind die Lenker von Rollstuhl und Rollator zufrieden. Ein Aufsteller verweist auf Baumfällarbeiten auf der rechten Straßenseite – kein Problem, Uta Kork und Marcel Albrecht kommen locker vorbei. Ein Stück weiter in Richtung Königstraße wird der Gehweg schmaler. Kinderwagen von vorne – alle Beteiligten müssen ein bisschen manövrieren, aber es geht. Seit wenigen Wochen gibt es in Lübeck einen Behindertenbeirat. Anfang Juni wurde Christian Rettberg zum Vorsitzenden gewählt, seine Stellvertreterin ist Heike Mattes. Weitere Mitglieder sind Erika Bade, Christian Clasen, Peter Jugert, Maria Mengering, Gudrun Müller sowie Kay Nitz. Viele Jahre lang hatte Lübeck einen Behindertenrat und einen Behindertenbeauftragten. Ein Beirat hat mehr Rechte. Schräge Fußwege werden zur Kraftprobe: Plötzlich müssen die beiden gegenlenken. Was ist passiert? „Immer, wenn ein Fußweg schräg abfällt, wird es problematisch“, erklärt Marcel Albrecht. Was dem Menschen mit gesunden Beinen überhaupt nicht auffällt, ist für alle mit Einschränkungen ein Kraftakt. „Ich muss richtig gegen die Schräge anarbeiten“, sagt der 30-jährige Rollstuhlfahrer. Uta Kork: „Ich muss aufpassen, dass mir der Rollator nicht abhaut.“ Kurz vor der Kreuzung zur Königstraße stehen Auslagen vor einem Gemüseladen. Weil alle Passanten auf die Straße wechseln, kommen die beiden LN-Testfahrer vorbei. Dann ist die Teststrecke geschafft. Für 750 Meter haben die beiden mehr als 16 schweißtreibende Minuten gebraucht. Für Menschen, die nicht so gut zu Fuß sind, ist die Innenstadt kein Zuckerschlecken. Interessenvertretungen wie der Seniorenbeirat kämpfen seit längerem und bislang vergeblich beispielsweise für anderes Pflaster auf dem Markt. Die Königstraße mit ihren vielen Aufstellern auf den Gehwegen wird zum Hindernisparcours. Das Kopfsteinpflaster in der Hartengrube ist so holperig, dass Radfahrer gerne den abschüssigen Gehweg vorbei am Altenheim Simeon benutzen. „Die schießen regelrecht an unseren Haustüren vorbei“, berichtet Einrichtungsleiterin Cornelia Geisser, „wir haben schon Warnhinweise für unsere Bewohner an den Türen angebracht.“ Stadt gibt sich selbstkritisch: Die Stadtverwaltung hat schriftlich niedergelegt, wie es um die Fußgänger-Freundlichkeit der Innenstadt allgemein steht – nicht zum Besten. Im Rahmenplan Innenstadt heißt es: „Wege zu Fuß werden dann als angenehm empfunden, wenn sie direkt, barrierefrei und ohne Konflikte mit anderen Verkehrsteilnehmern geführt werden.“ Von Konflikten mit anderen Verkehrsteilnehmern kann Uta Kork ein Lied singen. „Wenn ich mit meinem Rollator vom Fuß- auf den Radweg wechseln muss, weil der Gehweg blockiert ist, werde ich von ungeduldigen Radfahrern angeklingelt.“ Die Stadt zählt in ihrem Rahmenplan weitere Hindernisse auf – schmale oder zugeparkte Gehwege, zu lange Wartezeiten an Fußgängerampeln und fehlende Barrierefreiheit. „Mobilitätseingeschränkte Personen und Personen mit Kinderwagen können sich oft nur sehr eingeschränkt auf dem historischen Pflaster und den schmalen Gehwegen fortbewegen“, erklärt die Verwaltung selbstkritisch. Behindertenbeirat: Wann werden Gehwege besser? Uta Kork ist schon so manches Mal umgedreht, weil sie mit ihrem Rollator nicht weiterkam. Marcel Albrecht demonstriert das auf einem der schmalsten Fußwege von Lübeck – auf der Wahmstraße. Von der Königstraße stadtauswärts rollend wird der Gehweg auf der Wahmstraße schnell so eng, dass der geübte Rollstuhlfahrer mit einem Reifen an der Hauswand hängen bleibt. Der neu gewählte Behindertenbeirat drängt auf Lösungen. Vorsitzender Christian Rettberg: „Die Verwaltung soll sagen, in welchem Zeitraum die Fußwege verbessert werden.“ Anfang September will der Beirat mit Bausenatorin Joanna Hagen (parteilos) darüber sprechen. Alles, was Lübeck voranbringt: Jeden Montag gegen 18 Uhr in Ihrem E-Mail-Postfach. Hier kostenlos den Newsletter „Lübeck next“ bestellen! Von Kai Dordowsky