Horst Schulz: Der lange Weg zum Impfen

Horst kennt jeder. Zumindest in der Glockengießerstraße in der Altstadt. Denn dort wohnt Horst, der Horst genannt werden will. Während andere Männer mit 82 Jahren in Seniorenresidenzen leben, ist Horsts Zuhause die Straße. Er steht vor der Haustür, schnackt mit jedem, kennt alle mit Namen, hat stets einen witzigen Spruch parat und nimmt Päckchen an, wenn der Postbote kommt. Die Pandemie ist für soziale Menschen wie Horst eine Herausforderung. Horst Schulz lässt sich impfen: Also: Impfen lassen gegen Corona. Horst gehört zu den Ersten – denn er ist älter als 80 Jahre. Jahrgang 1938. „Meine Ärztin hat gesagt, ich soll mich impfen lassen“, sagt Horst Schulz verschmitzt. So heißt er mit vollem Namen. Und wenn die Ärztin ihm das sage, dann mache er es auch. Dabei verschweigt er gut gelaunt, dass seine Gesundheit nicht mehr die eines 30-Jährigen ist. Warten auf Termin im Impfzentrum: Los geht’s. Impfstart Ende Dezember: Kein Durchkommen bei der Telefon-Hotline. Nichts zu machen. Nächster Versuch Mitte Januar: Der Impfstoff ist alle. Keine Termine. Nun heißt es: Warten. Es soll eine Einladung zum Impfen kommen. Irgendwann. Denn das Land will Menschen wie Horst anschreiben. Irgendwann ist Ende Februar: Der Brief ist da. Endlich. Ran ans Telefon. Besetzt, besetzt, besetzt. Schließlich nimmt eine freundliche Dame ab. Zehn Minuten Telefonat – dann steht der Termin: Ende März. Dazu gibt es per E-Mail ein Impfticket und einen Haufen Unterlagen, versehen mit dem Hinweis: Bitte ausdrucken und ausfüllen. Horst hat keine E-Mail-Adresse und auch keinen Drucker. Aber Horst kriegt das hin. Großer Tag: Horst Schulz wird geimpft: Der große Tag: Termin um 15.45 Uhr in der Musik- und Kongresshalle (MuK). Die 1000 Meter geht Horst zu Fuß. Über dem Eingang an der Wasserseite steht groß Impfzentrum. Maske aufsetzen und ab in die Schlange zu den älteren Herrschaften. Am Nachmittag gibt es den unumstrittenen Stoff: Biontech. In vier Stationen geht es zum ersten Pieks. Station Nummer eins: Gleich hinter der Tür heißt es: Hände desinfizieren, Impfticket zeigen, Ausweis vorzeigen, Stirn hinhalten. Ein freundlicher Soldat mit blauen Handschuhen hält Horst ein Thermometer an die Stirn. Wie viel es anzeigt, weiß Horst zwar nicht – aber er befindet sich offenbar im Normalbereich von 36 Grad. Er darf zur nächsten Station. Impfticket statt Konzertkarte: Nummer zwei: Wo einst Konzertkarten verkauft wurden, schiebt Horst sein Impfticket durch einen Schlitz. Ist er am richtigen Tag, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort? Alles korrekt. Weiter geht’s. Station Nummer drei: Ein Zettelchen mit Nummer ziehen und hinsetzen in die Wartezone. Stühle stehen da, dazu ein paar Pflanzen. In Schleswig-Holstein sind fast 13 Prozent der Menschen geimpft. Gut 375 000 haben eine Erstimpfung erhalten. Das Land gibt die genauen Zahlen der Geimpften in Lübeck nicht heraus. Aber Horst gehört bald dazu. Der Blick fällt auf weiße Stellwände mit großen Nummern von eins bis sechs. Das sind die sechs Impflinien – oder einfach Kabinen. Fünf davon sind heute in Betrieb. Und Horst ist einer von 600 Menschen, die an diesem Tag einen Pieks bekommen. Der Blick fällt auf zwei riesige Bildschirme. Auf einem erklärt eine Frau in Gebärdensprache etwas über Corona. Auf dem anderen sind Nummern abgebildet. Horst hat die 278 – und muss in die Kabine vier. Fünf Minuten hat er gewartet. So lange dauert das Impfen: Station vier: fast geschafft. Ärztin Doktor Christiane Kagel trägt einen blauen Plastikkittel, Handschuhe, Maske – und schaut Horst durch ihre Brille wohlwollend an. Sie checkt die Unterlagen. Ist alles ausgefüllt: Anamnesebogen und Einwilligungserklärung? Fein. Jetzt aber: Hinsetzen, Ärmel hoch – und die vorbereitete Spritze pikst in Horsts Arm. Unspektakulär. Ein kurzes Gespräch – und in fünf Minuten ist Horst draußen. Nun kommt noch Station fünf: Ruhezone. Da sitzen alle Geimpften – und auch Horst. Eine Viertelstunde warten. Wenn jemand die Impfung nicht gut verträgt, ist einer der 27 Mitarbeiter des Impfzentrums vor Ort. Aber Horst braucht keinen von ihnen. Auf einem großen Bildschirm steht: „Vielen Dank, dass Sie sich haben impfen lassen.“ Lesen Sie auch Corona: Lübecker Einzelhandel bereitet sich auf click and meet vor Click and Meet in Lübeck: Wie funktioniert das Einkaufen mit Termin, und wann kommt es? Umfrage in Lübeck: 58 Prozent wollen den AKW-Bauschutt nicht Erste Impfung, zweite Impfung: Horst denkt an das Konzert von Achim Reichel, bei dem er vor zehn Jahren in der MuK war. „Wann das wohl wieder möglich ist?“ Die 15 Minuten sind um. Kurz vor dem Ausgang zur Willy-Brandt-Allee heißt es wieder kurz warten. Ein Soldat fragt: Erstimpfung – oder Zweitimpfung? Erstimpfung. Einmal durch die Tür – und raus. Es ist 16.10 Uhr. Horst hat es geschafft. Er reckt die Hand in die Höhe. Horst hat seine erste Impfung. Anfang Mai ist er wieder da. Von Josephine von Zastrow

Lübeck: Der lange Weg zum Impfen - Vom Impfstart zum Impfzentrum