Lübeck: Studentinnen klären über sexualisierte Gewalt auf

„Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner.“ Die nüchternen Zahlen vom Bundesfamilienministerium belegen eine bittere Lebensrealität vieler Frauen in Deutschland. Die Statistik umfasst Delikte wie Stalking, sexuelle Nötigung und Körperverletzung in der Partnerschaft. Allein in Lübeck wurden 751 Straftaten in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt statistisch erfasst – in 588 Fällen waren die Opfer weiblich. Die Dunkelziffer dürfte noch um einiges höher liegen. Olga van Wees erklärt das damit, dass „manche Frauen bis zu sechs Anläufe brauchen, bis sie sich jemanden anvertrauen“. Sie ist eine von fünf Lübecker Studentinnen, die anlässlich des „Orange Days“, des internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen, am 25. November eine Themenwoche gegen Frauenfeindlichkeit organisiert haben. Auch weitere Lübecker Einrichtungen bieten rund um den Tag Veranstaltungen. Die Studentinnen haben digitale Vorträge und Workshops vorbereitet. Der Titel: „Ich guck’ nicht weg!“ – denn das Gegenteil sei noch zu oft der Fall, solange das Thema noch derart stigmatisiert sei. Ihr Ziel: Für das Problem sensibilisieren und aufklären. Ärztinnen spielen wichtige Rolle bei der Aufklärung: Greta Mostert, Frederike Römer, Lena Döling, Maren Festersen und Olga van Wees studieren Medizin an der Uni Lübeck. Und als Ärztinnen der Zukunft sind sie davon überzeugt, dass sexualisierte Gewalt in der Gesellschaft noch zu sehr tabuisiert ist. Ein großer Teil der Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt werden, reden nicht über das, was ihnen widerfahren ist – oft aus Scham oder weil sie das Gefühl haben, der Täter würde ja doch nicht zur Rechenschaft gezogen. Das betreffe sowohl den alltäglichen Sexismus, den es auch an der medizinischen Fakultät der Uni Lübeck gebe, als auch physische Gewalt, sagt Greta Mostert. Betroffene von Gewalt in Lübeck können sich an folgende Ansprechpartner wenden: Weißer Ring Lübeck, Telefon 01 51/55 16 48 11 (rund um die Uhr) Frauennotruf Lübeck, Telefon 04 51/70 46 40 (montags, mittwochs, donnerstags 9 bis 13 Uhr, dienstags und donnerstags 16 bis 18 Uhr) Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“, Telefon 080 00/11 60 16 (rund um die Uhr) Autonomes Frauenhaus Lübeck, Telefon 04 51/660 33 (rund um die Uhr) Frauenhaus Hartengrube der Awo in Lübeck, Telefon 04 51/70 51 85 (rund um die Uhr) Nicht zuletzt Ärztinnen und Ärzte können dafür sorgen, dass sich das ändert. An der Uni Lübeck wird der Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt am Institut für Rechtsmedizin gelehrt. Gleichzeitig sei es wichtig, dass es ein standardisiertes Verfahren gibt, nach dem Frauen zum Beispiel nach eine Vergewaltigung untersucht werden und mit dem auch Spuren der Tat gesichert werden. Denn nur so gebe es überhaupt eine Chance, den Täter zu fassen. Vertrauen schaffen und auf Hilfsangebote hinweisen: Frederike Römer hat weitere Ideen, wie Medizinerinnen im Praxisalltag eine Vertrauensbasis zu den Patientinnen herstellen können: So würde sie im Wartezimmer ihrer Praxis Plakate aufhängen, die auf Hilfsangebote hinweisen. Olga van Wees ergänzt, dass die Täter häufig aus dem direkten Umfeld der Mädchen und Frauen kommen, denen sexualisierte Gewalt widerfährt. Es sei also dementsprechend wichtig, Hausärzte dafür zu sensibilisieren, weil sie häufig die erste Anlaufstelle seien. Mittwoch, 25. November, 19 Uhr: Online-Vortrag „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ Donnerstag, 26. November, 18 Uhr: Online-Vortrag „Vertrauliche Spurensicherung nach Gewalt – wie kann die Spurensicherung helfen“ Sonntag, 29. November, 10 Uhr: Online-Workshop „Domestic Violence – Let’s face the problem“ Dienstag, 1. Dezember, 19 Uhr: Online-Vortrag „Täterperspektiven“ Mittwoch, 2. Dezember, 19 Uhr: Online-Vortrag „Jede dritte Frau erlebt Gewalt – Männer, wir müssen reden!“ Donnerstag, 3. Dezember, 19 Uhr: Online-Vortrag „Medizin, guck nicht weg! – Häusliche Gewalt im internationalen Kontext aus verschiedenen Blickwinkeln“ Sonnabend, 5. Dezember, 10 Uhr: Online-Workshop „Wo hört der Spaß auf? – Umgang mit sexualisierter Gewalt“ Interessiert? Die Anmeldung für die Veranstaltungen findet online statt. Stichwort Hilfsangebote: Von denen gibt es zwar einige, allerdings seien die immer knapp bei Kasse. „Der Frauennotruf in Lübeck braucht zum Beispiel dringend finanzielle Mittel“, weiß Lena Döling. An motiviertem Personal mangele es in den einzelnen Initiativen jedenfalls nicht. Auch die Vortragenden während der Themenwoche bekommen zwar ein kleines Honorar für ihre Arbeit, hätten den Job aber auch gänzlich ohne Bezahlung gemacht. „Hilft nicht, sich nur übereinander aufzuregen“: Mit ihrer Themenwoche laden die Studentinnen explizit nicht nur Kommilitoninnen, sondern wirklich jede und jeden dazu ein, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es helfe nicht, sich nur übereinander aufzuregen. „Vielen Männern ist gar nicht bewusst, wenn sie Grenzen überschreiten“, sagt Maren Festersen. Auch Männer erleben sexualisierte Gewalt. Dass sie dabei mit einen Anteil von 18 Prozent der Opfer stellen, sei nur einem kleinen Teil der Bevölkerung bewusst. Es scheine sich nicht in das Bild von Männlichkeit zu fügen und führe dazu, dass gerade Männer sich selten Hilfe holen. 90 Prozent der Gewalt an Männern geht von Männern aus, was die These stütze, dass das Gewalt noch immer zum Rollenverständnis gehöre. „Wenn Männer also Teil des Problems sind, könnten sie auch Teil der Lösung sein“, sind sich die Studentinnen einig. Lesen Sie auch: Corona Krise: Mehr häusliche Gewalt in Lübeck erwartet Verlassen von der Justiz: Gewaltopfer wartet seit zwei Jahren auf Prozess Häusliche Gewalt: Beratungsstellen erwarten Anstieg Die Motivation, sich gegen sexualisierte Gewalt stark zu machen, ist bei den Initiatorinnen enorm. „Wir haben das Gefühl, dass wir da ein starkes gesellschaftliches Gefühl ansprechen. Das Ziel, dass sich etwas zum Positiven entwickelt, ist jedenfalls realistisch“, sagt Lena Döling voller Überzeugung. Die Resonanz auf das Projekt gibt ihr recht: Bisher hätten die fünf Organisatorinnen vor allem auf Zuspruch und Unterstützung dafür erlebt. Von Sophie Schade