Lübeck: Volkshochschule feiert 100-jähriges Jubiläum

Der Erste Weltkrieg war vorbei. Deutschland war eine Republik. Lübeck hatte sein altes Klassenwahlrecht abgeschafft. Doch zugleich hatte die Republik mächtige Feinde, Lebensmittel waren knapp, und Bildung war knapp. Ein Land in Aufruhr, ein Land im Aufbruch: Das war die Lage, in der die Lübecker Volkshochschule am 22. September 1919, vor genau 100 Jahren, den Lehrbetrieb aufnahm. „Wie überall in deutschen Landen“ war 1920 im „Bericht über das 1. Betriebsjahr“ der Volkshochschule zu lesen, „regte sich auch in Lübeck infolge der großen geistigen Verödung, die der lange Krieg mit sich gebracht hatte, das Bedürfnis nach einer Bildungsanstalt, in der alle Volkskreise ihr Streben nach Wissen und Bildung befriedigen könnten.“ 1919 besonders gefragt: Deutsch, Rechnen, Steno: Das „Streben nach Wissen und Bildung“ war nicht bloß eine Sonntagsredner-Floskel: Mehr als 4400 Teilnehmer zählte die Volkshochschule in ihrem ersten Jahr. Zwei Drittel waren Männer. Angestellte und Arbeiter machten den größten Teil aus. Besonders gefragt waren Deutsche Sprachlehre, Redekunst, Rechnen, Stenografie, Englisch und Volkswirtschaftslehre. Lübeck war 1919 Teil eines Volkshochschul-Gründungsbooms in ganz Deutschland. „Die Lübecker Volkshochschule ist auf demokratischer Grundlage errichtet“, stand im ersten Jahresbericht. „Jeder kann da mitmachen“, hieß es in einem Aufsatz von 1929, „der den guten Willen hat und bereit ist, sich auch mit Andersdenkenden an einen Tisch zu setzen.“ Von den Nazis gleichgeschaltet: Nur wenige Jahre später war von diesem guten Geist so wenig übrig wie von der Weimarer Republik. Die Nationalsozialisten überführten die Volkshochschule in die „Volksbildungsstätte Lübeck“, die zur Freizeit-Organisation „Kraft durch Freude“ gehörte. Die Aufgabe der „Volksbildungsstätte“ war, wie Lübecks Oberbürgermeister Otto-Heinrich Drechsler schrieb, „mitzuarbeiten am Aufbau der geistigen Volksgemeinschaft“. Auf dem Programm standen Themen wie „Rasse, Volk, Staat“, „Der nordische Gedanke als europäische Aufgabe“ oder „Kommandostimme-Übungen“ („Weithin hörbares deutliches zackiges und trotzdem stimmschonendes Kommandieren, auch für Sport- und Turnlehrer“). Teilnahmeberechtigt war „jeder deutsche Volksgenosse“. Neubeginn 1946: Die Neugründung der Lübecker Volkshochschule nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 war auch diesmal das Signal eines Aufbruchs. Deutlich kam das im ersten Jahr zum Ausdruck in Vorlesungsreihen wie „Der demokratische Gedanke in Deutschland“ oder „Die nationalsozialistische Herrschafts- und Rechtsordnung als Warnung und Lehre“. Unter dem Titel „Der runde Tisch“ gab es einen „Aussprachekreis über aktuelle Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaues“. „Forum für Weiterbildung“ statt „Volkshochschule“? Diesmal war die Demokratie von Dauer – und mit ihr auch die Volkshochschule. Stenografie steht nicht mehr auf dem Programm, dafür Kurse wie „Selbstmanagement nach dem Züricher Ressourcenmodell“ oder „Nüzi Qigong für Frauen“. Dagegen klingt das Wort „Volkshochschule“ selbst ein wenig altmodisch. In Lübeck hieß sie einige Jahre lang „Forum für Weiterbildung“, nur das Kürzel „VHS“ blieb noch übrig. Das hat die jetzige Leiterin Christiane Wiebe (57) gleich bei ihrem Amtsantritt 2010 rückgängig gemacht. „Der Name ,Volkshochschule’ ist eine eingeführte Marke“, sagt sie. „Ein Ort für alle“: Eine wichtige Aufgabe fiel der Volkshochschule seit dem verstärkten Flüchtlingszustrom Ende 2015 zu. Im Jahr 2017 verzeichnete sie wegen der vielen Deutschkurse einen Spitzenwert von 49 000 Unterrichtseinheiten. 2018 sank dieser Wert wieder auf 42 000. Wenn man die Deutschkurse für Ausländer herausrechne, sagt Christiane Wiebe, seien die Zahlen stabil. „Die Volkshochschule ist heute wie vor 100 Jahren ein Ort für alle. Ein Ort zum Lernen, zum Treffen und zum Diskutieren.“ Lesen Sie hier: So feierte die VHS in Lübeck Von Hanno Kabel

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