Lübeck erneut Hochburg der Radunfälle im Land

Es kann so schnell gehen: Am Nachmittag des 25. Februar fuhr Wirtschafts- und Sozialsenator Sven Schindler (SPD) mit seinem E-Bike vom Verwaltungszentrum Mühlentor zum Rathaus, weil er an einer Sitzung teilnehmen wollte. „Es hatte geregnet und ich fuhr auf dem roten Streifen in den Mühlenteller“, erzählt Schindler, „vor mir bog ein Auto nach rechts blinkend in die Hüxtertorallee ab, bremste aber unvermittelt und kam auf dem roten Streifen zu stehen. Ich wollte noch ausweichen, bremste, rutschte und stürzte.“ Mit 632 Radunfällen liegt Lübeck landesweit an der Spitze. Kiel zählte vergangenes Jahr 528, Pinneberg 546, Stormarn 318, Herzogtum Lauenburg 189, Segeberg 299 und Ostholstein 324. Landesweit verunglückten 2019 insgesamt 3767 Fahrradfahrer leicht, 585 schwer und 16 wurden getötet. Zwölf der getöteten Radfahrer waren Senioren ab 65 Jahren. Alle sieben getöteten Pedelec-Fahrer waren Senioren. Der Senator trug wie immer einen Helm, als er mit der Heckschürze des Autos kollidierte. „Durch den Schock hatte ich zunächst keine Schmerzen und auch die stark blutende Fleischwunde am Ellenbogen unter dem Jackett nicht bemerkt“, berichtet Schindler, „in der Notaufnahme, die ich nach dem Termin im Rathaus aufgesucht hatte, wurden ein Schleudertrauma und schwere Rippenprellungen festgestellt sowie die Fleischwunde versorgt.“ Am Fahrrad sei nur geringer Sachschaden entstanden. „Ich habe den Wegeunfall gemeldet und durch das Schleudertrauma gut vier Wochen lang Kopfschmerzen gehabt.“ So viele getötete Radfahrer wie seit 2006 nicht: Nirgendwo verunglücken in Schleswig-Holstein mehr Radfahrer als in der Hansestadt. 632 Unfälle zählte die Polizei für 2019 – 34 mehr als 2018, als Lübeck bereits Hochburg der Radunfälle im Land war. Laut Fahrrad-Club ADFC wurden zuletzt 2009 so viele Radfahrunfälle registriert. Vier Radfahrer wurden 2019 auf Lübecks Straßen getötet – so viele wie seit 2006 nicht mehr. Die Unfälle mit Pedelecs nahmen um satte 21 Prozent gegenüber 2018 zu. Landesweit waren es sogar 24,6 Prozent mehr Pedelec-Unfälle. Meist passiert es beim Abbiegen: Autofahrer übersehen beim Abbiegen Radfahrer – das ist weiterhin die Hauptursache für die Unfälle. „Aber auch Fußgänger verursachten in 23 Fällen Verkehrsunfälle mit Radfahrern“, erklärt die Polizei. Immerhin kam es 2019 aber auch zu 97 Stürzen von Radfahrern. Pech in der Silvesternacht: Die Linken-Politikerin und Bürgerschaftsabgeordnete Katjana Zunft erwischte es in der Silvesternacht. Sie wich um 2 Uhr einer Gruppe von Menschen vor der Discothek „Hüx“ aus. Als sie von der Straße wieder auf den Radweg wechseln wollte, rutschte das Hinterrad weg. Zunft: „Ich wollte mich mit dem rechten Bein abstützen und bin damit auch weggerutscht.“ Die Politikerin zog sich einen Innenbandriss am Knie zu. Unter anderem wegen des Unfalls hat sie ihr Amt als Kreisvorsitzende der Linken niedergelegt, weil sie viele Termine wegen ihrer eingeschränkten Mobilität nicht mehr wahrnehmen kann. 2013 gesetztes Ziel weit verfehlt: 2013 hatte der Runde Tisch Radverkehr das Ziel formuliert, bis 2020 die Zahl der verunglückten Radfahrer gegenüber 2011 (561 Verunglückte) zu halbieren. „Stattdessen ist die Zahl um 13 Prozent seit 2011 gestiegen“, rechnet der ADFC-Vorsitzende Wolfgang Raabe vor. Und fordert den Um- und Neubau von 20 Kilometern Radwegen jährlich in Lübeck. ADFC: Zu schmale und unebene Radwege: Raabe führt die hohe Zahl an Unfällen auf die maroden und oft zu engen Radwege zurück. „Auf Lübecks schmalen und unebenen Wegen hat die Zahl der Stürze drastisch zugenommen“, sagt der ADFC-Vorsitzende, „auch zwei der vier tödlichen Unfälle waren Alleinunfälle mit Sturz, in beiden Fällen waren beträchtliche Mängel an der Wegeinfrastruktur vorhanden.“ Raabe fordert auch ein Durchgreifen der Ordnungsbehörden, um Radfahrer zu schützen: „Unfallflucht und aggressives Verhalten im Straßenverkehr nehmen nach dem Polizeibericht deutlich zu. Geh- und Radwege oder Radspuren werden regelmäßig zum Abstellen von Kraftfahrzeugen genutzt.“ Ebenso wenig werde bislang die Einhaltung des seitlichen Sicherheitsabstandes beim Überholen von Radfahrenden kontrolliert. SPD-Politiker fordert Schulungen für E-Bike-Fahrer: Linken-Politikerin Zunft fordert: „Schildbürgerstreiche wie in der Roeckstraße dürfen nicht mehr vorkommen“, Unfallschwerpunkte wie der Lindenteller müssten endlich zu Gunsten der Radfahrer umgestaltet werden. Die Grünen arbeiten gerade an einer flächendeckenden Analyse, wo in Lübeck Tempo 30 oder 40 auf Straßen eingeführt werden könnte. Fraktionschef Bruno Hönel: „Das würde die Radfahrenden auch schützen.“ Und SPD-Verkehrspolitiker Ulrich Pluschkell sieht in den Pedelec- oder E-Bike-Fahrern „das Problem der Zukunft“. Viele Nutzer würden ihr Fahrzeug nicht beherrschen. Pluschkell: „Wir müssen über verstärkte Angebote von Schulungen für High-Speed-Radfahrer nachdenken.“ Lesen Sie auch: Sieben Unfalltote auf Lübecks Straßen: trauriger Rekord Vier tote Radfahrer im Jahr 2019: So reagiert Lübeck auf die traurige Bilanz Nach tödlichen Fahrradunfällen: Lübeck ändert Ampelschaltung am Brückenweg Lübeck: Zahl der Fahrradunfälle steigt wieder Radfahrer fühlen sich in Lübeck nicht sicher Von Kai Dordowsky

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