Lübeck in den 50er Jahren: Bildband mit Fotos von Hans Kripgans

Drei vielleicht zehnjährige Mädchen und drei Kleinkinder spielen am Rand der Katharinenstraße im Sand. Im Vordergrund turnt ein Junge auf einem Geländer. Im Hintergrund harken sieben Männer Laub, einige davon offensichtlich alt. Sie tragen alle die gleichen Schirmmützen, eine Art Uniform. Eine alltägliche Szene aus dem Jahr 1950 – und ein Foto wie ein Gemälde über Mädchen und Jungen, Kindheit und Alter, Spiel und Arbeit. Nach der Kriegsgefangenschaft gleich zurück zur Zeitung: Für seine besten Bilder ist Hans Kripgans nicht um die Welt gereist, zu den berühmten Menschen, den großen Ereignissen, den Kriegsschauplätzen. Er ist in Lübeck geblieben, das war die Welt, die er abbildete, in der es alles gab, was ihn interessierte. Vor allem waren das Menschen. Arme, reiche, kleine, große, traurige, fröhliche, unbekannte, bekannte, manchmal auch berühmte. Vielleicht hatte er genug gesehen vom großen Weltgeschehen. Während des Zweiten Weltkriegs war er Fotograf einer Propaganda-Kompanie der Wehrmacht, wie viele Pressefotografen. Nach fünf Jahren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft kam er Ende 1949 frei. Unmittelbar danach kehrte er in seinen Beruf zurück. Bis zu seiner Pensionierung 1975 blieb er Fotograf der Lübecker Nachrichten. Hans Kripgans, 1910 geboren in der Waisenhofstraße in St. Lorenz Nord, liebte seine Stadt und kannte sie wie kaum ein zweiter. „Außerhalb Lübecks wohnen kam für ihn nicht in Frage“, sagt sein Sohn Rainer (78). Der Bildband„Hans Kripgans: Das Auge der Lübecker Nachrichten – Fotografien 1950-1959“ (240 Seiten, 250 Abbildungen) erscheint im Junius Verlag und kostet 39,90 Euro. Herausgeber Jan Zimmermann hat die Fotos ausgewählt und mit Erklärungen versehen. Sie sind in zehn Kapitel gruppiert, für jedes Jahr eines. Am Anfang des Buchs steht eine Würdigung von Kripgans und seinem Werk. Zu jedem Kapitel gibt es eine kurze Einleitung. 2021 soll ein weiterer Band über die 60er Jahre erscheinen, im Jahr darauf einer über die 70er Jahre. Ab Montag, 26. Oktober, ist er an diesen Verkaufsstellen erhältlich: LN-Geschäftsstelle Lübeck Pressehaus (Dr.-Julius-Leber-Straße 9-11, Mo bis Fr 10 bis 13 Uhr, ab 1. November auch Sa 10 bis 14 Uhr) LN-Geschäftsstelle Bad Schwartau (Markttwiete 8, Mo bis Fr 10 bis 13 Uhr, ab 1. November auch Sa 10 bis 14 Uhr) „Buchstabe am Markt“ in Neustadt/H. (Am Markt 13, Mo bis Fr 9 bis 18 Uhr, Sa 10 bis 14 Uhr) LN-Geschäftsstelle Bad Segeberg (Kurhausstraße 12, Mo bis Fr 9 bis 12 Uhr) Ab 1. November ist das Buch außerdem in der LN-Geschäftsstelle Lübeck Herrenholz erhältlich (Mo bis Fr 10 bis 13 Uhr). Online kann es ab 28. Oktober unter https://shop.ln-online.de bestellt werden. Dann wird es auch im stationären Buchhandel erhältlich sein. Das Telefon stand auf dem Nachttisch: Kripgans war Journalist, das heißt: Er wollte dort sein, wo die Dinge passieren. „Das Telefon musste bis zu seinem Nachttisch verlegt werden“, erinnert sich Kripgans junior. „Wann immer nachts was passiert war, wurde er angerufen. Er zog sich seinen Mantel über den Schlafanzug und ist losgefahren.“ Gleich, ob in Herrenwyk ein Auto mit einer Straßenbahn zusammengestoßen war oder ob Hildegard Knef Lübeck besuchte: Kripgans war dabei und fotografierte. Seine größte Leidenschaft war die vergängliche Sportfotografie – der beste Beweis dafür, dass es ihm nicht um den Nachruhm ging. Nach seiner Pensionierung arbeitete er sogar ausschließlich in diesem Bereich. Er nahm seine dokumentarische Aufgabe sehr ernst, aber zugleich war Kripgans Künstler, auch wenn er sich, soweit bekannt, selbst nicht so bezeichnete. Über diese Seite seiner Arbeit habe er nur recht allgemein geredet, sagt sein Sohn: „Wie war immer sein Spruch: ,Fürs gute Fotografieren muss man ein Auge haben’, und: ,Zum Fotografieren gehört nicht nur Draufdrücken.’“ Was er genau meinte, lässt sich an seinen Bildern ablesen: Sie erzählen immer eine Geschichte, oft mehrere zugleich. Sie verdichten die Wirklichkeit. „Was Kripgans wollte, wurde auch so gemacht“: Das Foto zum Beispiel, das er 1950 von der Großbaustelle am Kohlmarkt machte, erzählt von den Zerstörungen des Krieges, von dem Willen zum Neuanfang, von der Neugier der Passanten, von der körperlichen Arbeit, auch von der modernen Architektur, die fast beiläufig in den Vordergrund ragt. Ein bisschen wie ein Wimmelbild; aber anders als ein Wimmelbild hat es ein Zentrum, nämlich die Straßenbahn, die man förmlich hört, wie sie sich quietschend und rumpelnd über den Platz schiebt. Kripgans sei „eine stattliche Erscheinung“ gewesen, erinnert sich Wolfgang Maxwitat (69), selbst jahrzehntelang Fotograf bei den LN. „Was er wollte, wurde auch so gemacht“, sagt Maxwitat. „Er hatte keine Scheu vor hochgestellten Persönlichkeiten.“ Nicht zuletzt dieser Eigenschaft ist Hans Kripgans’ berühmtestes Bild zu verdanken. Es zeigt Thomas und Katia Mann 1953 vor der Ruine des Buddenbrookhauses. Der Nobelpreisträger und seine Ehefrau hatten sich in Travemünde aufgehalten und hatten eigentlich nicht vor, in der Innenstadt Station zu machen. Kripgans, der sie mit dem LN-Chefredakteur Hans Schrem begleitete, überredete sie, es doch zu tun. Fotografische Streifzüge durch den Lübecker Alltag: Auf dem Foto blicken zwei würdevolle, alte Menschen ernst, fast abweisend, in die Kamera. Thomas Mann, im dunklen Anzug mit Einstecktuch, den Regenschirm-Spazierstock über den Unterarm gehängt, scheint sich an seinem Hut und seiner Zigarre festzuhalten, während hinter ihm das Haus seiner Großeltern mit den leeren Fensterhöhlen emporragt. Das ganze schwierige Verhältnis des Dichters zu seiner Geburtsstadt ist in diesem Bild eingefangen. Wenn er keine Termine hatte, ging Kripgans durch die Stadt und fotografierte, was ihm interessant erschien. Bei diesen Streifzügen entstanden Aufnahmen, die aus heutiger Sicht zu den wertvollsten zählen. Mehr noch als die Bilder von Häusern, Prominenten oder Großereignissen zeigen die Alltagsszenen uns Heutigen, wie anders die Welt vor 60 oder 70 Jahren war. Wenn er ins Rathaus ging, zog Kripgans einen Anzug an: Da sind zum Beispiel die vielen Kinder, die in kleinen und großen Gruppen auf den Straßen unterwegs waren – ohne Erwachsene. Wenn es etwas zu sehen gab, dann bildeten sie eine Traube, wie auf dem Bild von 1951 aus der Innenstadt, das einen Mann auf Stelzen inmitten einer Schar neugieriger Jungen in kurzen Hosen zeigt. Allein die Kleider der Menschen auf den Bildern sagen viel darüber aus, wie sich die Zeiten geändert haben – die Hüte der Männer, die Kopftücher der Frauen, die Pelzmäntel der Reichen, die Ledermäntel der Polizisten, die wüst gemusterten Hawaii-Hemden der Jitterbug tanzenden Jugendlichen. Hans Kripgans selbst habe bei der Arbeit immer auf seine äußere Erscheinung geachtet, erinnert sich sein Nachfolger Wolfgang Maxwitat: „Wenn’s morgens in einen Kleingarten ging, zog er sich normal an. Hatte er dann nachmittags einen Termin im Rathaus, ging er nach Hause, zog sich einen Anzug an und ging dann zum Termin.“ Bilder aus den 30er Jahren größtenteils verschollen: Kripgans hatte nach einer kaufmännischen Lehre um 1930 mit dem professionellen Fotografieren angefangen. Seine Bilder aus den 30er Jahren sind größtenteils verschollen, bis auf eine Sammlung mit Motiven zum Thema Lübeck im Nationalsozialismus, die er Anfang der 80er Jahre an das Fotoarchiv der Hansestadt verkaufte. Im Bundesarchiv gibt es knapp 100 Bilder aus Kripgans’ Zeit als Wehrmachts-Berichterstatter. Auch diesen Bildern sieht man den geschulten Blick und die technische Versiertheit des Fotografen an, egal ob sie die Altstadt des besetzten Pskow zeigen oder rollende Panzer im russischen Winter. Aber selbst wenn man davon absieht, dass sie im Dienst einer besonders lügnerischen Kriegspropaganda entstanden: Diese Bilder haben nicht annähernd die Qualität von Kripgans’ späterer Arbeit für die Lübecker Nachrichten. Diese Arbeit gibt uns jetzt ein einmaliges Panorama Lübecks aus einer Zeit, die uns mal nah erscheint und mal fern. Eines gelingt diesen Bildern fast immer: Sie machen den Betrachter neugierig. Mehr könnte sich Hans Kripgans, wenn er noch lebte, kaum wünschen. Von Hanno Kabel