Lübeck kassiert weiter Straßenausbaubeiträge für Altfälle

Als die Bauverwaltung ihm Mitte Oktober eine 22-seitige Kopie des Verwaltungsgerichtsurteils vom 27. Mai 2020 zuschickte, gab Norbert Bodenthien die Hoffnung auf, sein Geld wiederzusehen. „Ich bin kein Jurist“, sagt der Rentner, der sich mehrere Monate einen Schriftwechsel mit der Bauverwaltung lieferte. Es ging um einen Straßenausbaubeitrag – für einen Abschnitt der Elswigstraße in St. Jürgen, „den ich bestimmt 30 Jahre lang überhaupt nicht genutzt habe.“ „Es darf kein Straßenbauzwangsgeld geben“: „Ich bin der Meinung, dass es ein Straßenbauzwangsgeld für eine öffentliche Straße nicht geben darf“, schrieb der Rentner einen letzten Brief an die Verwaltung. Die hatte Bodenthien allerdings längst klar gemacht, dass seine „subjektive Sichtweise nicht maßgebend“ sei. Und auch nicht, ob er diesen Abschnitt zwischen Kastanienallee und Wendehammer benutze oder nicht. Der 72-Jährige muss knapp 120 Euro bezahlen – im Vergleich mit anderen Bürgern eine überschaubare Summe. „Von 120 Euro kann ich eine Woche leben“, stellt Norbert Bodenthien allerdings klar. Außerdem muss er auch noch die Gebühren für den abgewiesenen Widerspruch überweisen. Neufassung der Satzung seit Monaten in der Schwebe: Dass Bürger und Verwaltung sich über Ausbaubeiträge nicht einig sind, ist nicht ungewöhnlich. Spannend an dem Fall aus St. Jürgen ist, dass er in eine Zeit fällt, in der Politiker seit Monaten eine von der Verwaltung vorgeschlagene Neufassung der Straßenausbaubeitragssatzung vor sich her schieben. Das Verwaltungsgericht Schleswig hat in dem Urteil vom 27. Mai den Einheitssatz für den Einbau einer Regenwasserleitung als fehlerhaft und daher als unwirksam beurteilt. Der Immobilienunternehmer Thomas Görß und sein Anwalt Carsten Hunnekuhl hatten gegen die Satzung geklagt. Görß erhielt wegen einer Entwässerungsmaßnahme im Balauerfohr einen Bescheid. Die Verwaltung wollte von Görß den Einheitssatz für neue Regenwasserleitungen von 840 Euro pro laufendem Meter haben. Der Satz war vor sechs Jahren von 260 auf 840 Euro erhöht worden. Verwaltung: Nur ein kleiner Teil der Satzung ist nichtig: Der Einheitssatz für den Einbau einer Regenwasserleitung sei nichtig, bestätigt die Stadtverwaltung: „Das hat im Kern seinen Grund darin, dass bei der Kalkulation mit den Kosten der Hausanschlüsse sachfremde Kosten berücksichtigt wurden.“ Das Verwaltungsgericht habe aber in seinem Urteil ausdrücklich ausgeführt, dass dadurch nicht die gesamte Satzung nichtig werde. „Sie stellt damit nach wie vor die Rechtsgrundlage für die Veranlagung von Straßenausbaubeiträgen dar“, erklärt die Verwaltung. Die Stadt könne nicht nur weiter Ausbaubeiträge von den Bürgern kassieren, sie müsse es sogar, sagt die Verwaltung: „Aufgrund des abgabenrechtlichen Beitragserhebungsgebotes müssen weiter Straßenausbaubeiträge veranlagt werden. Eine Unterlassung wäre ein Verstoß und könnte grundsätzlich sogar strafrechtliche Konsequenzen haben.“ Bisher wurden nur Straßenbau-Maßnahmen bis zum Jahr 2016 abgerechnet. Die Abrechnung der Maßnahmen aus dem Jahr 2017 wird laut Verwaltung im Jahr 2021 durchgeführt. Dabei geht es um 13 Baumaßnahmen. „Keine dieser Maßnahmen beinhaltet eine Abrechnung einer Regenentwässerungsleitung“, sagt die Verwaltung. Die Maßnahmen aus dem Jahr 2018 werden 2022 abgerechnet. Dabei geht es um 14 Maßnahmen, von denen nur drei die Abrechnung der Regenentwässerung beinhalten. Lesen Sie auch So können Sie Kulturprojekte in Lübeck unterstützen Lübeck: Freispruch für Arzt im Psychiatrie-Prozess Lübeck: Corona-Verdacht an den Feiertagen - Was ist zu tun? Insgesamt geht es um Einnahmen für die Stadt von 1,3 Millionen Euro. Von dem Verwaltungsgerichtsurteil seien nur Maßnahmen im Umfang von 175 300 Euro betroffen. Der Rest könne in den nächsten zwei Jahren ohne Vorliegen eines Urteils oder auch einer neuen Beitragssatzung abgerechnet werden, sagt die Verwaltung. Der Kieler Landtag kippte im Dezember 2017 trotz zahlreicher Proteste von Kommunen die Pflicht zur Erhebung von Straßenausbaubeiträgen. CDU, Grüne und FDP stellten es Städten und Gemeinden damit künftig frei, ob sie die Anwohner an den Kosten einer Sanierung beteiligen wollen. Zugleich stockte das Land sein Infrastrukturprogramm für die Kommunen von 34 auf 49 Millionen Euro im Jahr auf. Für die Jahre 2018 bis 2020 erhielt Lübeck zusätzlich 4,87 Millionen Euro pro Jahr für Infrastrukturmaßnahmen. Ende November 2018 beschloss die Bürgerschaft auf CDU-Antrag mit knapper Mehrheit, die Straßenausbaubeiträge für Lübeck ab dem 1. Januar 2019 abzuschaffen. Den Teil der Straßenausbaubeitragssatzung, der vom Gericht als nichtig erklärt wurde, versucht die Stadt zu heilen – mit einer Satzungsänderung, die den Politikern seit dem Sommer vorliegt. Baumaßnahmen, bei den Entwässerungsleitungen angefasst werden, sollen auf „Grundlage der tatsächlichen Kosten rechtssicher“ abgerechnet werden. Alle warten jetzt auf das OVG Schleswig: Doch die Politiker zieren sich – vor allem die Christdemokraten. Im November wurde im Hauptausschuss der Bürgerschaft verkündet: „Die Satzung wird solange vertagt, bis das Oberverwaltungsgericht entschieden hat.“ Wann diese Entscheidung fällt, steht allerdings in den Sternen. „Die Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte sind stark belastet“, erklärt die Stadtverwaltung, „von hier kann nicht eingeschätzt werden, wann das OVG Schleswig entscheiden wird.“ Für alle Straßenbaumaßnahmen, die nach dem 1. Januar 2019 angefangen wurden, können die Bürger nicht mehr zur Kasse gebeten werden. Die Bürgerschaft hatte im November 2018 mit knapper Mehrheit die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge in Lübeck zum 1. Januar 2019 beschlossen. Von Kai Dordowsky