Lübecker rettet Leben im Mittelmeer

Wenn Böhm losfliegt, weiß er, was ihn erwartet. „Es vergeht kein Einsatz ohne eine Seenotrettung“, sagt er. Manchmal sind es drei, manchmal 13 Rettungen. In der Regel sitzen bis zu 150 Geflüchtete in Schlauchbooten, die nur für 30 Leute konzipiert sind. „Die Boote sind nicht hochseetauglich“, erklärt der Lübecker, „damit schaffen die Menschen höchstens 50 Seemeilen.“ Entweder sie werden gerettet oder sie fahren in den Tod. „Das wissen die Menschen auch.“ Aber sie sind so verzweifelt, dass sie sagen: „Lieber sterbe ich auf dem Meer, als dass ich in Libyen bleibe.“ So habe er das schon oft gehört, sagt Böhm. Das Jahr 2016 geht laut Sea-Watch mit über 5000 Toten als tödlichstes Jahr an Europas Grenze in die Geschichte ein. Um Leben zu retten, betreibt die gemeinnützige Initiative seit Anfang 2017 mit der Schweizer humanitären Piloteninitiative (HPI) das zivile Aufklärungsflugzeug „Moonbird“ über dem zentralen Mittelmeer. Die Crew ist auf Malta stationiert und startet von dort ins Einsatzgebiet. So wie fast alle Aktivisten arbeitet auch Böhm ehrenamtlich für Sea-Watch. Er ist in Lübeck aufgewachsen und hat 2011 am Johanneum sein Abitur gemacht. Derzeit pendelt er zwischen Berlin und Malta, hat aber immer noch eine enge Beziehung zur Heimat und zu seiner Familie. Laut Alina Krobok vom Presseteam des Vereins ist Böhms Einsatz enorm wichtig. Denn die „Moonbird“ kann als einziges ziviles Flugzeug alle Seenotrettungsschiffe aus der Luft unterstützen. „Das Projekt ist von unschätzbarem Wert.“ An Bord sind in der Regel der Pilot, der Einsatzleiter und ein Crewmitglied für die Dokumentation. Die Propellermaschine vom Typ Cirrus SR22 deckt ein riesiges Seegebiet vor der libyschen Küste ab und meldet die Notfälle der MRCC in Rom. Diese Rettungsleitstelle ist zuständig für die Koordinierung der Seenotrettungsfälle im Mittelmeer. Außerdem nimmt Böhm direkt Kontakt mit Schiffen auf, damit diese die Rettung übernehmen. Laut Böhm können das Versorgungsschiffe für Ölplattformen sein oder auch Fischerboote. Nicht nur seelisch, auch körperlich sind die Flüge ein harter Job. „Im Flugzeug herrschen Temperaturen von bis zu 50 Grad, wir sind bis zu sechs Stunden in der Luft, können uns kaum bewegen und suchen stundenlang das Wasser ab.“ Wenn das Team ein Boot in Seenot entdeckt, kreisen sie einige Minuten darüber, um Zustand, Kurs, Geschwindigkeit, Personenzahl zu dokumentieren. Dann müssen sie weiter. „Würden wir bleiben, wären die anderen Boote verloren.“ Immer hoffen sie, dass Rettung rechtzeitig kommt. „Gewissheit haben wir nie.“ Im vergangenen Jahr wurden von „Moonbird“ 119 Boote in Seenot gesichtet. Ohne die Luftaufklärungsmission wären die Menschen ertrunken. „Wir fliegen dicht über dem Meer. Ich kann die Gesichter der Menschen sehen: ihre Mimik, ihr Winken“, sagt Böhm. „Ich kann schwimmende Lebende von treibenden Toten unterscheiden, und ich kann sehen, dass manche Boote bald untergehen werden.“ Wenn der 26-Jährige erzählt, klingt seine Stimme gefasst, professionell. Aber nach den Einsätzen kommen die Bilder. Und die Wut. Tausende können nicht gerettet werden. 2017 ertranken 3500 Geflüchtete im Mittelmeer. Wenn Böhm darüber nachdenkt, fühlt er eine Mischung aus Ärger und Ohnmacht. „Aber ich sage mir, es ist nicht meine Schuld. Es ist die Schuld einer EU-Politik, die es den Menschen nicht möglich macht, ihr Recht auf Asyl wahrzunehmen. Einer Politik, die diese Menschen in den Tod treibt.“ Sea-Watch e.V. ist eine gemeinnützige Initiative mit Sitz in Berlin, die sich für die zivile Seenotrettung von Flüchtenden einsetzt. „Angesichts der humanitären Katastrophe leistet Sea-Watch Nothilfe, fordert und forciert gleichzeitig die Rettung durch die zuständigen europäischen Institutionen und steht öffentlich für legale Fluchtwege ein“, so der Verein. Sea-Watch betont seine politische und religiöse Unabhängigkeit und finanziert sich durch Spenden. Helfende Hände werden laut Verein immer gebraucht. Für die Schiffscrew der „Sea-Watch“ werden Kapitäne, Köche, interkulturelle Mediatoren, Mediziner oder Mechaniker gesucht. Für die Flugzeugcrew: Piloten und seenotrettungserfahrene Einsatzleiter. Info: www.sea-watch.org Cosima Künzel

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