Die Straße ist wie viele in Lübeck: eine ruhige Wohnstraße mit langen Reihen von Mietshäusern aus den 50er Jahren, einige noch mit altem, dunkelgrauem Putz an den Außenwänden. Am Freitagabend kam die Polizei in eines dieser Häuser. Hier wohnte bis zu seiner Festnahme Ali D., der mutmaßliche Attentäter aus dem Bus der Linie 30 nach Travemünde, in der Wohnung seines Vaters. „Der hatte mal eine eigene Wohnung“, sagt Hartmut Gerlach (46), ein Nachbar. „In Kücknitz war der bekannt. Er hat manchmal rumgeschimpft auf öffentlichen Straßen oder bei Rewe.“ Er habe immer eine Winterjacke getragen – so wie auch an dem heißen Sommertag, an dem er im Bus zum Messer gegriffen haben soll.
Als psychisch auffällig bekannt
Bis Ende 2016 soll Ali D. nach Angaben von zwei Nachbarn in einer eigenen Wohnung gewohnt haben. Gerlach sagt, er habe sich beim Vermieter über ihn beschwert. „Weil das so laut war.“ Danach ist D. wohl bei seinem Vater im Nebenhaus untergekommen. Nach einem Bericht von „Spiegel online“ beschreibt der Vater seinen Sohn als psychisch auffällig. „Er fühlte sich von den Nachbarn verfolgt“, zitiert das Nachrichtenportal den Vater. Außerdem soll sich der 34-Jährige dem Bericht zufolge mit seiner Ex-Partnerin um das Sorgerecht gestritten haben.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft ist Ali D. deutscher Staatsangehöriger und lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Gebürtig ist er den Angaben zufolge aus dem Iran. Das veranlasste Alice Weidel, Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, gestern zu einem Facebook-Post, in dem sie schrieb: „Wieder ist es ein Immigrant aus dem orientalischen Kulturkreis, der mit mörderischer Aggressivität auf friedliche Einheimische losgegangen ist.“
Über die ethnische Zusammensetzung der Fahrgäste, die mit Ali D. im Linienbus saßen, ist allerdings nichts bekannt. Unbekannt ist auch, inwieweit Ali D.s Herkunft aus dem „orientalischen Kulturkreis“ mit dem Attentat etwas zu tun hatte. Ali D. hatte seinem Vater zufolge mit Religion nichts zu tun. Auf eine politische Radikalisierung gibt es laut Lübecks Oberstaatsanwältin Ulla Hingst keinen Hinweis.
Am Tatort an der Travemünder Landstraße in der Nähe des Bahnhofs Kücknitz sind die Spuren des Verbrechens am Tag danach noch zu sehen. Dort, wo der Fahrer den Bus angehalten hatte, liegt ein verkohlter Rest des Rucksacks, den Ali D. mit Hilfe eines Brandbeschleunigers angezündet hatte. Ringsum haften Spuren von Löschschaum. Auf dem Asphalt des Fahrradwegs sind die Blutspuren noch zu erkennen.
Auch in den Gedanken und Gesprächen der Menschen in der Umgebung des Tatorts ist das schreckliche Ereignis präsent. Amin Szynski (22) führte am Freitagnachmittag seinen Hund in einem Waldstückchen aus, das an die Travemünder Landstraße grenzt. Es muss unmittelbar nach dem Anschlag gewesen sein. Durch die Bäume sah und hörte er die Menschen, die die Polizei riefen. Zuerst habe er an einen Unfall gedacht. Später informierte er sich im Internet. „Mein Opa sagte: ,Sowas passiert in Berlin oder Frankfurt, aber doch nicht hier!‘“
Die Gedanken der Anwohner
„Ein bisschen unwohl“ fühle er sich, sagt Robert Friese (34), der am Bahnhof Kücknitz auf den Zug in Richtung Hauptbahnhof wartet. „Ich fahre oft mit dem Bus. Die Nichte von meiner Freundin war fast in dem Bus, in dem es passiert ist. Sie hat einen Bus später genommen.“ Er habe zuerst an einen Großbrand gedacht, sagt Nils Laue (28), der mit seiner Schwester Sandra Laue (30) und deren Sohn Felix (4) auf dem Fahrrad in Richtung Travemünde unterwegs ist. Jetzt, da er mehr weiß, findet er es „sehr traurig, dass sowas hier in Kücknitz passiert. Damit rechnet man nicht.“
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Sibylle Blöcker (62) steht am Tag danach auf ihrem Grundstück an der Travemünder Landstraße. Sie lebt hier seit ihrer Geburt. Vom Garten aus blickte sie am Freitag auf die Polizeiabsperrung und die Schar der Reporter, deren Autos vor ihrem Zaun parkten. „Ich kam von einer Beerdigung zurück und war gerade drinnen, da hörte ich ununterbrochen Lärm“, erzählt sie. Als erstes habe sie an ihren Sohn gedacht, der gerade Feierabend hatte, und Angst gehabt, er sei verunglückt. Später informierte sie sich im Internet und erfuhr, was geschehen war. „Natürlich ist es ein mulmiges Gefühl“, sagt sie. „Zumal Travemünder Woche ist und ich am Freitag noch zum Brügmanngarten fahren wollte.“ Sie habe sich zunächst gefragt: „Haben sich mehrere verabredet, die da was machen wollten?“, und meint die Möglichkeit eines Anschlags.
Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund gibt es nach allem, was bislang bekannt ist, nicht. Nichtsdestoweniger verbreitete sich die Nachricht von dem Anschlag am Freitagnachmittag binnen kurzer Zeit – nicht bloß in Lübeck. „Meine Tochter ist in Ägypten im Urlaub und rief an, ob alles in Ordnung ist“, sagt Elke Fanger (77), die mit ihrem Ehemann am Bahnhof auf den Zug wartet. Aber nicht alle hat die Nachricht erreicht: „Ich wohne ganz woanders. Ich wusste gar nicht, dass das hier war!“, sagt eine Frau, die am Bahnhof mit einer Freundin ins Auto steigt. „Wieso, was ist passiert?“, fragt die Freundin.
Zeugen gesucht
Polizei und Staatsanwaltschaft bitten Zeugen der Tat, sich unter der Telefonnummer 04 51 / 131-0 zu melden. Alle Fahrgäste des Busses werden gebeten, ihre Personalien aufnehmen zu lassen. „Die Zeugenvernehmungen werden die nächsten Tage in Anspruch nehmen“, sagte Oberstaatsanwältin Ulla Hingst am Freitagabend.
Von Hanno Kabel