Serie mit Lübeck-Fotos von Hans Kripgans: Kinder in den 50er Jahren

Im Oktober 1950, ein Dreivierteljahr, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, nahm der L N-Fotograf Hans Kripgans eine Alltagsszene in der Katharinenstraße in St. Lorenz Nord auf, ein paar hundert Meter entfernt von dort, wo er selbst aufgewachsen war. Es zeigt Männer, die Laub harken, und davor Kinder, die am Boden hockend spielen. Björn Engholm spielte mit Murmeln: Wäre Kripgans an einem anderen Tag gekommen, wäre vielleicht Björn Engholm auf dem Foto gewesen, der spätere Ministerpräsident Schleswig-Holsteins. Engholm (81) wuchs an der Katharinenstraße auf und spielte dort, zum Beispiel mit Murmeln, die sie „Picker“ nannten. „Eine große Glasmurmel war so viel wert wie zehn kleine Tonmurmeln“, erinnert er sich. Die Straßen gehörten im Lübeck der 50er Jahre den Kindern. „Es gab wenig Verkehr, noch lange nach dem Krieg wurde sogar die Post zum Teil mit dem Pferdewagen ausgetragen“, sagt Engholm. Die Freiheit der Kinder: „Wir waren frei“, sagt Norbert Lietzke (77), der in der Siedlung Wallberg in Dänischburg aufwuchs und dort bis heute wohnt. „Wir konnten tun und lassen, was wir wollten.“ Beschränkt wurde die Freiheit vor allem durch den Mangel. „Ich konnte einmal zum Schulausflug nicht mitkommen“, erinnert sich Lietzke, „weil meine Schuhe beim Schuster waren.“ Waschküche und Schweinestall: Elf Menschen wohnten Anfang der 50er Jahre in seinem kleinen Siedlungshaus an der Travemünder Landstraße, dazu ein Ehepaar in der Garage. An das Haus angebaut waren das Klo, die Waschküche und der Schweinestall. Wenn man tagsüber drinnen war, hielt man sich meistens in der Küche auf. Aber man war nicht viel drinnen tagsüber. „Nach der Schule, wenn die Schularbeiten fertig waren, ging man raus“, erinnert sich Lietzke. In Kücknitz ins Kino: Höhepunkte von Norbert Lietzkes Kinderleben waren die Kinobesuche im „Ultra“ oder im „Rex“ in Kücknitz, wo man zum Beispiel „Tarzan“ sehen konnte oder die damals populären Western. „Die 25 Pfennig für den Eintritt mussten wir uns verdienen“, sagt Lietzke. Dafür half er bei der Gemüseernte: „Erbsen, Bohnen, Kartoffeln, für ein paar Pfennige pro Korb.“ Lesen Sie auch: Kampfkandidatur um Lübecker Stadtpräsidenten: Ein Stück aus dem Tollhaus Lübeck: Leere Innenstadt sorgt für Einbußen im Einzelhandel Unterricht per Video: Lübecker Schulen bereiten sich auf zweiten Lockdown vor Nur einer hatte einen Fußball: Einen Fußball hatte nur der Sohn des Gärtners. Wenn der Ball in den falschen Vorgarten flog, konnte es Probleme geben. „Da war ein Mann, der hatte so ein verbranntes Gesicht vom Krieg“, erzählt Lietzke. „Der hat uns den Ball nicht wiedergegeben. Dann mussten wir zur Polizei in Kücknitz. Dann ist der Polizist mit dem Fahrrad gekommen und hat den Ball wiedergeholt.“ Der Schatten des Krieges: Der lange Schatten des Krieges reichte noch in die Gegenwart der Kinder, auch wenn sie das nicht immer verstanden. Der Schatten zeigte sich auf körperlich und seelisch versehrten Männern, er zeigte sich im nahen Waldhusener Forst, wo bis 1951 Flüchtlinge und Entwurzelte aus ganz Europa im Lager Pöppendorf auf ein Zuhause warteten. Norbert Lietzkes Vater hatte ihm von den Zwangsarbeitern auf der Flenderwerft erzählt und davon, dass er schon vor dem Krieg Danzig verlassen hatte, weil er mit seinen vornehmlich jüdischen Kunden keine Geschäfte mehr machen konnte. Durch Lübecks Trümmer gelaufen: „Es gab mehr Mütter als Väter“, sagt Björn Engholm. Ab 1951 ging er von der Katharinenstraße täglich zur Schule in die Innenstadt. „Ich bin jahrelang durch Trümmer gelaufen. Ich habe dieses entsetzliche Bild von gekappten Kirchtürmen und zerstörten Häusern sehr in Erinnerung. Es war bedrückend.“ Gesprochen aber, sagt Engholm, habe man über Krieg und Nationalsozialismus nicht. Weder bei ihm zu Hause noch am Johanneum. „Wir hatten so eine Ahnung, dass etwas Schlimmes passiert war, mehr nicht.“ Der Bildband„Hans Kripgans: Das Auge der Lübecker Nachrichten – Fotografien 1950-1959“ (240 Seiten, 250 Abbildungen) erscheint im Junius Verlag und kostet 39,90 Euro. Herausgeber Jan Zimmermann hat die Fotos ausgewählt und mit Erklärungen versehen. Sie sind in zehn Kapitel gruppiert, für jedes Jahr eines. Am Anfang des Buchs steht eine Würdigung von Kripgans und seinem Werk. Zu jedem Kapitel gibt es eine kurze Einleitung. 2021 soll ein weiterer Band über die 60er Jahre erscheinen, im Jahr darauf einer über die 70er Jahre. Erhältlich ist das Buch unter anderem in den LN-Geschäftstellen: Pressehaus (Dr.-Julius-Leber-Straße 9-11): Montag bis Freitag 10 bis 13 Uhr, donnerstags 10 bis 17 Uhr, samstags 10 bis 13 Uhr Bad Schwartau (Markttwiete 8): Montag bis Freitag 10 bis 13 Uhr, donnerstags 10 bis 17 Uhr, samstags 10 bis 13 Uhr Herrenholz (Herrenholz 10-12): Montag bis Freitag 10 bis 13 Uhr Oldenburg (Hinterhörn 5): Mittwoch 9 bis 13 Uhr Bad Segeberg (Kurhausstraße 12): Montag bis Freitag von 9 bis 12 Uhr Die Weltmeisterschaft 1954 vor dem Fernseher: 1954 erlebte Engholm mit den Eltern vor dem Fernseher den Sieg der Deutschen bei der Fußball-Weltmeisterschaft. Sein Vater habe geweint vor Glück. „Dabei hatte der mit Fußball überhaupt nichts am Hut“, sagt Engholm. „Da habe ich zum ersten Mal gemerkt: Da ist was nicht aufgearbeitet. Auch wenn ich es so nicht hätte sagen können.“ Als er ein Jahr später mit Freunden eine Fahrradtour nach Dänemark machte, wurden sie in mehreren Geschäften abgewiesen, weil sie Deutsche waren. „Darauf waren wir nicht vorbereitet.“ Wirtschaftswunder auch in Lübeck: Materiell ging es aufwärts, erst langsam, dann immer schneller. Björn Engholm trat seinen ersten Ferienjob im Hafen an und fing an, abends auszugehen, ins Dr. Jazz und ins Riverboat. Norbert Lietzkes Vater, bis dahin arbeitslos, fand 1954 Arbeit in Hamburg. Das Plumpsklo am Haus wurde durch ein WC ersetzt. Und Norbert Lietzke bekam einen eigenen Fußball. Von Hanno Kabel