Sonderausstellung von Manaf Halbouni in Lübeck: Ein Sachse auf der Flucht

„Mein Land“ heißt das große Wandrelief von Manaf Halbouni im ersten Stock der Kunsthalle St. Annen, die Buchstaben aus Beton und in Frakturschrift, umkränzt von Stacheldraht. Einst stolze Adler haben sich darin verfangen. Halbouni hat sie aus den Flaggen europäischer Länder herausgeschnitten und in den Schriftzug drapiert. Nationalismus, Abschottung, Demokratieverlust: Alle Themen, die den deutsch-syrischen Künstler umtreiben, sind in diesen Buchstaben präsent. Spektakuläre Kunstaktionen: Manaf Halbouni ist gerade mal 35 Jahre alt, hat jedoch schon einigen Staub aufgewirbelt mit spektakulären Kunstaktionen wie der Installation „Monument“, für die er 2017 drei Linienbusse vertikal vor der Frauenkirche in Dresden aufragen ließ – ein Verweis auf die Lage in Syrien, wo Bewohner eines Wohnblocks in Aleppo drei Busse als Barrikade vor dem Gebäude aufgebaut hatten. „Sachse auf der Flucht“ benannte Halbouni 2015 seine künstlerische Reaktion auf die Pegida-Märsche in Dresden, wo er bis zum Umzug nach Berlin in diesem Sommer lebte: Mit einem wie ein Fluchtfahrzeug bepackten Auto – beladen mit Koffern, Kühlschrank, Sonnenschirm, Bierkasten, Gartenzwergen – stellte er sich auf den Theaterplatz, dem Versammlungsort von Pegida in Dresden, um mit den Demonstranten ins Gespräch zu kommen. „Ich habe dann gemerkt, ich komme da nicht dran und die Aktion abgebrochen“, erzählt Manaf Halbouni beim Rundgang durch die Lübecker Ausstellung. Das Auto und ein weiteres sind als Kunstwerke erhalten geblieben, wenn auch reduziert auf zwei vollbepackte, vom Chassis abgesägte Autodächer. Und wer ist nun das Volk? Der junge Aktionskünstler, dem die Kunsthalle St. Annen jetzt erstmals eine Einzelausstellung widmet, ist in zwei Kulturen zu Hause, ein Wanderer zwischen den Welten des Orients und des Okzidents. Als Kind schon verbrachte der Sohn einer Dresdnerin und eines syrischen Architekten die Ferien an der Elbe bei den Großeltern, 2008 musste er als Kriegsdienstverweigerer Syrien verlassen. Halbouni zog von Damaskus nach Dresden – in eine Stadt, die einst für Freiheit und Demokratie aufgestanden war und in der nun das Bedürfnis nach neuen Mauern wächst. „Shifting Values“ – Wechselnde Werte – heißt ein Werk der Ausstellung in der Kunsthalle St. Annen, das die Pole von absoluter Freiheit und absoluter Abgrenzung ins Bild setzt: vier Sicherheitspylone, die als Blockaden vor Eingängen von geschützten Gebäuden hoch- und wieder eingefahren werden können. Dabei erklingen von Original-Tonmitschnitten aus Leipzig 1989 und von einer Pegida-Demonstration 2014 die Rufe „Wir sind das Volk!“. Beim Herunterfahren der Pylone fordern die skandierenden Stimmen die Öffnung, beim Herauffahren die Schließung einer Grenze. „Wir sind längst viel zu stark voneinander abhängig“, sagt Manaf Halbouni, „Grenzen machen keinen Sinn, Corona hat das einmal mehr gezeigt.“ Werte der westlichen Demokratien stehen in Frage: Kunst, sagt Hans Wisskirchen, der Leiter der Lübecker Museen, werfe Fragen auf, die derzeit vielfach von der Corona-Krise überdeckt werden, sie müsse und solle angesichts eines wahrnehmbaren Demokratieverlustes politisch sein. Und politisch ist diese Ausstellung unter dem Titel „Ostwind“. Jedes einzelne Werk von Manaf Halbouni erinnert daran, dass die grundlegenden Werte der westlichen Demokratien in Frage stehen. Aber keines fügt sich so perfekt in den Museumskomplex St. Annen ein wie „Fragments“: Halbouni hat in Blei gefasste Kirchenfenster – sie sind aus den Glasresten echter Kirchenfenster entstanden – in Fragmente von Betonmauern gesetzt. Wie Kriegsruinen stehen sie nur noch auf Schutthaufen als Zeugnis der Zerstörung der abendländisch-christlichen Werte. Die neue Schau in der Kunsthalle St. Annen „Manaf Halbouni – Ostwind“ ist ab dem 30. August bis zum 8. November zu sehen. Sie eröffnet am Sonnabend um 11 Uhr im Beisein des Künstlers und ist aufgrund der coronabedingten Personenbeschränkung bereits ausgebucht. Eine Videoaufzeichnung und ein informierendes Hintergrundvideo sowie geplante Führungen zur Ausstellung sind nach der Eröffnung abrufbar unter: www.kunsthalle-st-annen.de Öffnungszeiten: Di – So von 10-17 UhrEintritt: 2,50/4/8 Euro Die speziell für das Lübecker Museum entwickelte Schau bezieht auch die Sammlung der Kunsthalle mit ein und stellt ausgewählte Bilder der Sammlung in einen künstlerischen Dialog mit dem Werk von Manaf Halbouni. Was seine Arbeiten so spannend macht, ist, dass er sich jedem polarisierenden Diskurs entzieht. Halbouni nähert sich den politisch und emotional aufgeladenen Themen seiner Sujets nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. „Ich möchte eine andere Sichtweise vermitteln, zu der jeder sich selbst Gedanken machen kann. Das Resultat ist offen – jeder ist in seinen Gedanken frei“, sagt Halbouni. Gedankenspiel eines alternativen Weltenverlaufs: Wenn auch vielleicht nicht immer so frei wie der Künstler selbst. Sein Projekt „What if“ – „Was wäre, wenn“ – ist das Gedankenspiel eines alternativen Weltenverlaufs: Was wäre, wenn Industrialisierung und Demokratisierung nicht in der westlichen, sondern in der arabischen Welt stattgefunden hätten? Wenn zwei östliche Mächte Westeuropa einst mit dem Lineal aufgeteilt hätten ohne Rücksicht auf die dort lebenden Völker? Wenn der arabische Frühling ein europäischer geworden wäre mit all seinen Folgen von Krisen, Kriegen und gewaltigen Fluchtbewegungen? Manaf Halbouni entwickelt eine fiktive Weltgeschichte, die die westlichen Gesellschaften wie ein Vexierbild spiegelt. Es ist eine spielerische und zugleich intellektuell herausfordernde Reflexion höchst brisanter Themen. „Das Politische kann auch diesen sehr humorvollen Zugang haben“, sagt Kunsthallen-Leiterin Antje-Britt Mählmann, die den Künstler für diese Einzelausstellung nach Lübeck geholt hat. „Ich finde das sehr geschickt.“ Lesen Sie auch Morddrohungen wegen Aleppo-Kunstwerk in Dresden Kunsthalle St. Annen zeigt Bilder der „Helsinki School“ Nordic Design im St. Annen Museum: So wohnt Skandinavien Hier geht’s zur Webseite von Manaf Halbouni Manaf Halbouni auf Instagram Alle Berichte zur Kultur im Norden lesen Sie hier Von Regine Ley