Städtische Seniorenheime haben Pflegeentgelte schon 2019 kräftig erhöht

Minutiös hat Regina Pawils die Kostensteigerungen aufgelistet. Seit September wohnt ihre Mutter in einem städtischen Pflegeheim. Bis Februar 2019 betrug die monatliche Eigenbeteiligung 1729 Euro, dann stieg sie auf 1970 Euro. Zum Januar dieses Jahres kamen noch einmal knapp 19 Euro obendrauf. Und zum Oktober dieses Jahres soll der Satz auf 2703 Euro steigen. Stadt: Entgeltanpassungen reichten nicht: Mit dieser Auflistung dokumentiert Regina Pawils, dass es auch in der Vergangenheit immer wieder Anhebungen der Pflegesätze in den städtischen Einrichtungen gab. „Es stimmt nicht, dass die Kosten seit Jahren nicht erhöht wurden“, widerspricht auch Gabriela Sommer den Aussagen von Sozialsenator Sven Schindler (SPD), dass es in der Vergangenheit nur „seichte Anstiege“ gegeben habe. „Im letzten Jahr haben wir bereits eine Erhöhung von rund 250 Euro monatlich erhalten, seit Anfang diesen Jahres sind monatlich 18,60 Euro als Ausbildungspauschale dazugekommen“, erklärt die Lübeckerin, die eine Tante in einem städtischen Heim betreut. Reinhard Sooß, dessen Mutter in einem städtischen Seniorenheim lebt, berichtet von Erhöhungen bis zu elf Prozent im Jahr 2019. Ein anderer Leser rechnet Steigerungen von 13 Prozent vor. „In den vergangenen Jahren gab es mehrfach und wiederholt Entgeltanpassungen“, bestätigt die Stadtverwaltung auf LN-Anfrage. Allerdings hätten die nicht gereicht. „Diese vergleichsweise geringen Entwicklungen konnten leider nicht zur Selbstkostendeckung führen.“ Auch die im März 2019 verhandelten Pflegesätze würden die zwischenzeitlich stark und stetig gestiegenen Kosten nicht decken. Defizit der Heime sinkt 2021 auf 1,8 Millionen Euro: Deshalb habe die Bereichsleitung der Seniorenheime erneut eine Selbstkostendeckung beantragt. Das sind die mittlerweile sehr umstrittenen 500 bis 800 Euro im Monat oder 25 bis 33 Prozent. Die wirken sich im Wirtschaftsplan 2021 der städtischen Seniorenheime günstig auf das Defizit aus – es sinkt auf 1,8 Millionen Euro im Jahr – , aber die Betroffenen sollen schon früher zur Kasse gebeten werden: nämlich zum 1. Oktober 2020. Auch das bestätigt die Verwaltung auf LN-Anfrage: „Die Anpassungen der Pflegesätze sind mit einer Mindestlaufzeit von einem Jahr zum 1. Oktober 2020 beantragt und werden sich folglich auch auf das Wirtschaftsjahr 2021 auswirken.“ Ob es überhaupt zu diesen hohen Steigerungen der Pflegeentgelte kommt, liegt jetzt in der Hand der Pflegekassen und Sozialhilfeträger. SPD: Über Erhöhung entscheiden nicht die Politiker: Unklar ist, ob die Politik noch etwas gegen die Anhebung der Pflegeentgelte tun kann. Die Bürger für Lübeck (BfL) fordern Senator Schindler auf, den Wirtschaftsplan 2021 für die Senioreneinrichtungen zu überarbeiten. „Wir haben jahrelang beanstandet, dass die Einrichtungen nicht kostendeckend arbeiten, aber unser Ruf wurde sowohl von der Verwaltung als auch von den politischen Mitstreitern angestrengt überhört“, sagt Volker Krause, sozialpolitischer Sprecher der BfL. Eine dauerhafte Subventionierung der Heime sei als „soziale Pflicht“ dargestellt worden. Jetzt jedoch mit Brachialgewalt die Pflegeentgelte anzuheben, sei ungeheuerlich. Krause: „Wir schlagen vor, dass kostendeckende Beiträge nur für Neuzugänge erhoben werden, bei den bereits dort residierenden Senioren darf eine Erhöhung nur moderat erfolgen.“ „Müssten Anpassungen nicht schrittweise erfolgen?“: Der Hauptausschuss der Bürgerschaft hat den Wirtschaftsplan der Heime für 2021 an den Sozialausschuss zurück überwiesen. Anfang November sollen die Sozialpolitiker noch einmal über den Wirtschaftsplan diskutieren. „Die Politik entscheidet nicht über die Pflegeentgelte“, stellt jedoch der SPD-Fraktionschef Peter Petereit klar, das sei Aufgabe der Verwaltung. Viele Pflegebedürftige können die Pflegeentgelte in Heimen nicht aus ihrer Rente bestreiten, sind auf Sozialhilfe angewiesen. Sozialämter können die Kinder der Pflegebedürftigen zu den Kosten heranziehen. Seit 1. Januar 2020 schiebt das Angehörigen-Entlastungsgesetz dem weitgehend einen Riegel vor. Kinder dürfen erst zur Kasse gebeten werden, wenn ihr Jahreseinkommen über 100 000 Euro liegt. Dieses Gesetz schreibt sich auch Kiels Sozialminister Heiner Garg (FDP) mit auf die Fahnen. Garg will aber noch mehr. Er setzt sich für die Einführung eines Bundeszuschusses aus Steuermitteln ein. Ziel sei eine Deckelung des Eigenanteils für pflegerische Aufwendungen. Damit soll verhindert werden, dass der Eigenanteil für pflegebedürftige Menschen angesichts absehbarer und notwendiger Mehrkosten für das Pflegepersonal weiter steigt. Das ist aber noch nicht beschlossen. Christa Krull, deren Familie eine monatliche Mehrbelastung von gut 700 Euro angekündigt wurde, fragt, ob eine solch drastische Anhebung überhaupt zulässig sei: „Müssten die Anpassungen nicht schrittweise erfolgen?“ Die Lübeckerin: „Die jetzige Forderung scheint uns jedenfalls höchst unsozial, wenn sie für die dort lebenden Menschen ohne Abfederung durch einen Stufenplan erfolgt.“ Die Stadt hat zwar jetzt die Debatte am Hals, steht aber mit steigenden Pflegeentgelten nicht alleine da. Auch andere Träger müssen die Eigenanteile der Bewohner regelmäßig anheben. Die Stadt geht sogar davon aus, dass sie mit ihren Preisen 2021 nicht mehr zu den Spitzenreitern gehört. Alles, was Lübeck voranbringt: Jeden Montag gegen 18 Uhr in Ihrem E-Mail-Postfach. Hier kostenlos den Newsletter „Lübeck next“ bestellen! Land hat eine Initiative zur neuen Finanzierung gestartet: Aus Sicht von SPD-Fraktionschef Peter Petereit muss sich das ganze Finanzierungssystem der Pflege ändern. Damit steht er nicht alleine. Im Mai 2019 forderte Fred Mente, Vorstand der Vorwerker Diakonie, die vier Heime in Lübeck betreibt: „Pflegebedürftige sollen nur noch 1000 Euro im Monat Eigenanteil bezahlen.“ Der Rest solle aus Steuern beglichen werden. Der Kieler Sozialminister Heiner Garg (FDP) hat dazu 2019 sogar eine Initiative im Bundesrat gestartet. Garg erklärte vor wenigen Wochen, dass er einen Steuerzuschuss erwarte. Außerdem solle die Krankenversicherung die medizinische Behandlung von Bewohnern in Pflegeheimen bezahlen. Lesen Sie auch Lübeck: Kommt das Street-Art-Festival? Lübeck: 2021 fällt der letzte Vorhang im Theater Partout Travemünde: Seehund-Drama auf dem Priwall Von Kai Dordowsky