Straßenbau: Warum Lübecks Kopfsteinpflaster an einem geheimen Ort lagert

Oliver Hauch (52) steht vor einem Berg rechteckiger Steine. Was auf den ersten Blick wie beliebiges Baumaterial aussieht, ist für den Experten etwas Besonderes. Es sind Kopfsteine aus der Lübecker Altstadt, die sortiert nach ihren Ursprungsstraßen auf die Wiederverwendung warten. Sie sind so wertvoll, dass der Lagerplatz dafür geheim ist. Das Zwischenlager für das Granit-Pflaster aus dem Gründungsviertel ist etwa so groß wie ein Fußballfeld. Es existiert seit 2014. Verantwortlich ist der Bereich Stadtgrün und Verkehr. Schnee liegt auf diversen drei Meter hohen, lang gezogenen Steinhaufen. Das sehr harte Gestein aus körnigen Teilen von Quarz, Feldspat und Glimmer stapelt sich in verschiedenen Farbnuancen von Rotbraun bis Grau. „Jeder Stein ist einzigartig“, sagt Oliver Hauch, „und als Ganzes sind sie ein wertvoller, immer knapper werdender, nachhaltiger Baustoff.“ Außerdem sind die Steine ein Stück Lübecker Historie. Das Pflaster aus dem Gründungsviertel stammt aus der Braun-, Fisch- und Alfstraße. Es soll 2023/24 wieder dort verlegt werden. „Das machen wir erst dann, wenn die Hochbauprojekte fertig sind“, erklärt Abteilungsleiterin Verkehrswegebau Mirjana Kayser (40), „sonst machen die schweren Baufahrzeuge das aufwendig verlegte Kopfsteinpflaster wieder kaputt.“ Im 12. und 13. Jahrhundert waren die Straßen der Stadt nicht ungepflastert, sondern mit unterschiedlichen Holzkonstruktionen, auch mit Schotter, Pflastersteinen, Schlacke oder Ziegelbruch befestigt, erklärt Direktor Dr. Jan Lokers vom Archiv der Hansestadt Lübeck. Die vom Stadthügel abwärts führenden Straßen waren wegen des abfließenden Wassers mit Knüppeldämmen befestigt. Erst seit Ende des 13. Jahrhunderts wurden die Straßen nach und nach gepflastert. „Man benutzte große runde Granitsteine für die Fahrbahnen und kleinere für die Bürgersteige vor den Häusern“, so der Bereichsleiter. Zwischen Bürgersteig und Fahrbahn lagen tiefe Rinnsteine, in denen das Wasser ablaufen konnte, und in der Mitte der Straße befand sich eine flache Rinne. Bis in die Mitte des 19. Jahrhundertsblieb diese Art der Pflasterung in den meisten Straßen im Wesentlichen unverändert. Zuständig für Pflasterung und Instandhaltung der Straße waren von Anfang an die Eigentümer der anliegenden Häuser, und zwar jeweils bis zur Straßenmitte. Dadurch gerieten die Straßen zunehmend in einen schlechten Zustand. Laut Lokers wurde dies erst 1842 durch Einrichtung der Wegebaudeputation, sozusagen der Vorgänger der Straßenbehörden, geändert. Für die Finanzierung wurde eigens eine Pflastersteuer eingeführt. In den folgenden Jahrzehnten wurden nach und nach die meisten Straßen der Stadt neu gepflastert, und es entstand das bis heute typische Bild der mit behauenen Kopfsteinen gepflasterten Fahrbahn. Granit war schon damals ein wertvoller Import-Baustoff, so Lokers. „Nachlesen kann man dasalles sehr gut bei Wilhelm Brehmer in der Zeitschrift für Lübeckische Geschichte ( www.vlga.de )“, empfiehlt der Archivdirektor. Der Verein für Lübeckische Geschichte, der in diesem Jahr sein 200-jähriges Bestehen feiert, hat seine Zeitschrift komplett digitalisiert und durchsuchbar gemacht. Die Quelle: Wilhelm Brehmer, Beiträge zu einer Baugeschichte Lübecks. 3. Die Straßen, deren Namen, Pflasterung, Reinigung und Beleuchtung, sowie die Versorgung der Stadt mit Wasser, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 5, 1888, Seite 225 bis 282. Die Steine kosten 170 Euro pro Tonne: Die historischen Natursteine kosten 170 Euro pro Tonne. Damit kann man etwa 2,5 Quadratmeter pflastern. Rund 5000 Quadratmeter Kopfsteinpflaster werden für das Viertel benötigt. Wert: 340 000 Euro. In dem Zwischenlager befinden sich fast ausschließlich die hochwertigen Steine. Die anderen, die aufgrund von geringer Größe oder Abnutzung nicht mehr als Pflastersteine brauchbar sind, werden an die Lübeck Port Authority (LPA) geliefert. Die LPA nutzt sie laut Kayser für Uferbefestigungen. Die Oberseite der Kopfsteine wird noch geschnitten: Bevor aus den hochwertigen Exemplaren wieder ein Straßenbelag im Gründungsviertel wird, müssen sie geschnitten werden. Die Oberseite, der Kopf, wird dabei begradigt. „Der Geh- und Fahrkomfort wird dadurch deutlich erhöht“, sagt Kayser. Nach einer Ausschreibung erfolgt das Schneiden bei einem Steinmetz mit einer Spezialsäge. Anschließend werden die Steine bei 1200 Grad Celsius geflammt. Lesen Sie auch Wintervergnügen im Schnee: Wo kann man in Lübeck noch Schlitten kaufen? Lübeck: Schilder mit Aufschrift Universitätsstadt geklaut Schleswig-Holstein: Meteorologen warnen vor Schneesturm am Wochenende Im Gründungsviertel werden sie dann nach einem bestimmten Muster verlegt. Die Fachleute nennen das Polygonalverband. „Dadurch werden die Schubkräfte der Fahrzeuge bestmöglich verteilt und abgelenkt“, erklärt die 40-Jährige. Der Unterschied ist gut sichtbar: In der Straße Mühlendamm/Ecke Musterbahn kann man Kopfsteinpflaster sehen, das bereits verlegt wurde. An einer Fußgängerfurt ist der Unterschied zwischen geschnittenen und ungeschnittenen Steinen gut sichtbar. Nicht nur der Fahrkomfort unterscheidet die Steine, auch der Preis. „Die Kopfsteine im Zwischenlager sind schon wertvoll“, betont Hauch lächelnd, „aber geschnitten sind sie Gold.“ Der 52-Jährige ist Technischer Angestellter im Bereich Straßenerhaltung. Er ist der Sohn eines Steinsetzers, gelernter Straßenbauer und seine Leidenschaft für Straßen und Steine nimmt er in die Freizeit und den Urlaub mit. Terrassen und Auffahrten rund um sein Haus hat er selber gepflastert, und bei Stadtbesichtigungen im In- und Ausland schaut er meist nach unten. „Mich interessiert, wie andere Städte ihre Straßen gemacht haben“, sagt er lachend, „und ob sie so schön sind wie unsere in Lübeck.“ Von Von Cosima Künzel