Sympathisches Lübeck: Glosse zu Stadtmarken-Monitor

Die Brötchen bekomme ich beim Bäcker gewöhnlich umsonst, meiner warmen Stimme wegen. Touristen fragen mich ständig nach dem Weg. Meistens wollen sie mich hinterher zum Essen einladen. Ich lehne ab, bin dabei aber so bescheiden und taktvoll, dass ich nicht selten Tränen der Rührung in ihren Augen sehe. Praktisch alle Männer wollen mit mir ein Bier trinken oder angeln gehen, Frauen vertrauen mir ihre Geheimnisse an, Kinder nennen ihre Kuscheltiere nach mir. Woher nur kommt dieses Charisma? Ich gebe zu: Manchmal habe ich mir insgeheim gewünscht, eine Spur unsympathischer zu sein. So viel Zuneigung von allen Seiten kann einen Menschen an seine Grenzen bringen, besonders unter den Bedingungen der Corona-Pandemie. Was mich am meisten verstörte: Ich konnte mir mein abnormes Charisma einfach nicht erklären. Lesen Sie auch: Lübeck: Eltern kritisieren Kontaktpersonen-Klassifizierung in der Schule Travemünde: Ab 2021 zahlen Gäste auf dem Grünstrand Gebühren Lübeck: Unterkunft für Obdachlose wird saniert Hamburg, Lübeck und Freiburg: Erst die Studie „Stadtmarken-Monitor“ hat mir die Augen geöffnet. Ich bin in Hamburg geboren und lebe seit Jahrzehnten in Lübeck. Das sind, so steht es in der Studie, schon zwei der drei sympathischsten Städte Deutschlands. In der dritten Stadt aus dieser Gruppe, Freiburg, habe ich Verwandte. Kurz: Ich bin eine Kombination aus Marzipansüße und weltoffenem Charme mit einem Hauch von Ökologie und Intellektualität. Wer könnte da widerstehen? Auf nach Duisburg: Sobald die Infektionslage es zulässt, werde ich ins Ruhrgebiet reisen. Dort wimmelt es laut „Stadtmarken-Monitor“ von „Städten mit niedriger Markenstärke“ wie Duisburg, Gelsenkirchen und Oberhausen. Die armen Menschen dort, verachtet von Marketing-Experten und Touristen, brauchen meine Sympathie. Und falls sie darauf bestehen, mich zur Currywurst einzuladen, will ich mal nicht so sein. Von Hanno Kabel