Verlassen von der Justiz: Gewaltopfer wartet seit zwei Jahren auf Prozess

„In der Nacht wollte er Sex und wurde immer aggressiver. Er hat mich gebissen, mir die Haare büschelweise rausgerissen und mich schlimm zugerichtet. Er hielt mir die Hand vor den Mund, damit mich niemand schreien hört. Er sagte, er könne mit mir machen was er wolle, weil ich Muslima sei und es niemanden interessiere. Und dass er keine Spuren hinterlassen werde, wenn er mich umbringe. Dann hat er sich hingelegt und geschlafen.“ Selina K. (Name von der Redaktion geändert) Im Januar 2019 ins Frauenhaus: Der gewalttätige Übergriff Anfang Dezember 2018 ist nicht der erste, den Selina K. ertragen muss. Bereits wenige Monate zuvor soll ihr damaliger Lebenspartner sie auf den Boden geworfen und schwer verletzt haben, weil sie ihn verlassen wollte. „Bevor der Krankenwagen kam, sagte er mir, dass meiner Familie etwas passieren würde, wenn ich den Mund aufmache“, erzählt Selina K.. Sie sei danach operiert worden und habe immer noch sechs Schrauben im Rücken, berichtet die heute 46-Jährige. Die Drohung wirkte. Selina K. schwieg aus Angst. Doch nach der Nacht im Dezember handelt sie endlich. Sie holt sich Hilfe, wendet sich an den Frauennotruf, nimmt Kontakt zu einer Anwältin auf und lässt die Verletzungen von einer Rechtsmedizinerin untersuchen und dokumentieren. Im Januar 2019 zieht sie ins Frauenhaus und erstattet Anzeige bei der Polizei. Der Täter soll endlich gestoppt werden. Doch das wird nicht geschehen. Zwei Jahre im Versteck: Selina K. lebte damals in Lübeck, heute muss sie sich noch immer an einem geheimen Ort verstecken. Ihr Ex-Lebensgefährte musste bisher nicht vor einem Gericht erscheinen. Fast zwei Jahre sind seit der Anzeige vergangen. Selina K. hat eine Betreuerin beim Weißen Ring in Lübeck. Evelin Lell hat Selina K. lange begleitet. „Dieses Mädchen leidet jetzt so lange, und der Typ lebt glücklich und zufrieden. Es ist gar nichts passiert, und er lacht sich kaputt. Das ist für Selina zusätzlich beschämend“, sagt Lell. Kritik an den Ermittlungen: Doch es gibt nicht nur keinen Prozess, es ist offenbar auch bei den Ermittlungen viel falsch gelaufen. Die Fotos ihrer Verletzungen, die in der Rechtsmedizin gemacht wurden, wurden von den Ermittlern zunächst nicht berücksichtigt. „Weder Staatsanwaltschaft noch Polizei haben diese Dokumentation der Verletzungen angefordert, so ist es auch erst nur zu einer Anklage wegen Nachstellung gekommen. Doch die Tat wegen der Frau K. sich zu einer Anzeige entschlossen hatte und die sie mit Datum, Täter, Tatgeschehen und rechtsmedizinischem Gutachten belegen konnte, ist gar nicht weiter verfolgt worden“, sagt die Lübecker Rechtsanwältin Kerstin Raber, die K. vertritt. Schlussendlich habe sich Selina K. eigenständig um das Gutachten bei der Rechtsmedizin bemühen müssen, so dass der gewalttätige Übergriff wenigstens nachträglich noch in die Akte aufgenommen wurde. Ein Auftrag durch die Staatsanwaltschaft sei nicht erteilt worden. „Und so musste sie das Gutachten sogar selbst bezahlen“, ärgert sich Lell, die sich dafür einsetzt, dass die Opferhilfe vom Weißen Ring die Kosten übernimmt. Staatsanwaltschaft verteidigt Vorgehen: Bei der Lübecker Staatsanwaltschaft verteidigt man das Vorgehen. „Eine Auskunft an die Ermittlungsbehörden kann das Institut für Rechtsmedizin in einem solchen Fall nur erteilen, wenn eine Schweigepflichtentbindungserklärung der untersuchten Person vorliegt. Dies war nach meinen Recherchen nicht der Fall“, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Dr. Ulla Hingst. Tatsächlich geht aber aus einem E-Mail-Verkehr zwischen Selina K. und der Polizei hervor, dass K. nachgefragt hat, warum denn die Erklärung bisher nicht berücksichtigt worden und ob das mittlerweile geschehen sei. Daraufhin bestätigt die Beamtin die Existenz der Erklärung: „Ich habe die von Ihnen unterzeichnete Schweigepflichtentbindung in die Akte mit aufgenommen und darauf hingewiesen, wozu dieses Schreiben gehört.“ Und auch die Anwältin von Selina K. widerspricht entschieden. „Frau K. hat die Schweigepflichtentbindungserklärung schon bei der Anzeigenerstattung im Januar 2019 in der Hansewache unterzeichnet. Sie kann sich sogar noch an den Polizeibeamten erinnern, der bei der Unterzeichnung zugegen war“, so Raber. Und sie selbst wisse noch, dass sie die Dezernentinnen bei der Staatsanwaltschaft im Mai 2019 auf das Vorhandensein der Erklärung aufmerksam gemacht habe. Wurden zu wenig Beweise gesichert? Negative Erfahrungen mit den Ermittlungen hat Selina K. bereits zuvor nach einem Einbruch in ihre Wohnung gemacht, bei dem der Täter randaliert und ihre Kleidung und das Bett zerschnitten hat. Die Polizei nimmt einen Schminkspiegel mit Blutspuren mit. „Ich habe die Beamten gebeten, eine Spurensicherung durchzuführen, Fingerabdrücke zu nehmen und die Blutspuren an den Kleidungsstücken, Schränken und Schubladen zu sichern. Doch sie wollten nicht. Ich habe die ganzen Sachen dann später selber in Tüten gepackt und alles fotografiert. Aber es hieß, man brauche nichts mehr“, sagt Selina K. Später habe ihr ein Polizist dann gesagt, dass die Blutspuren am Spiegel tatsächlich von ihrem gewalttätigen Freund seien, aber nichts beweisen würden, da er sich ja auch beim Rasieren geschnitten haben könnte. Für Selina K. ist es deshalb unverständlich, warum nicht die vielen anderen Blutspuren des Randalierers in der Wohnung, die sie mit Fotos belegen kann, gesichert wurden. Bei der Staatsanwaltschaft geht man hingegen davon aus, dass die eine gesicherte Blutspur vor Gericht reicht. Ulla Hingst: „In den Handakten des damals ermittelnden Staatsanwalts befindet sich ein Vermerk, der besagt, dass nach dessen Bewertung etwaigen DNA-Spuren auf den von der Geschädigten bei der Polizei vorgelegten Kleidungsstücken kein weitergehender Beweiswert beizumessen gewesen wäre ... und dass die Blutspur auf dem Spiegel von dem Täter stammen müsse.“ Hier werden Frauen unterstützt, die von häuslicher Gewalt bedroht werden. Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen: anonyme, kostenfreie und mehrsprachige Beratung rund um die Uhr unter Telefon 08000/ 116016 Autonomes Frauenhaus seit 1978: rund um die Uhr mehrsprachige Beratung unter Telefon: 0451/660 33, www.autonomes-frauenhaus.de Frauenhaus Hartengrube Lübeck: Infos unter Telefon 0451/705185 oder 0451/71628, www.frauenhaus-awo-luebeck.de Gewaltopferambulanz der Rechtsmedizin am UKSH: Kostenlose und vertrauliche Untersuchung zur Sicherung von Spuren bei Gewalttaten ohne Anzeigepflicht, Telefon: 0451/500 15 951 (Montags bis freitags von 9 – 16 beziehungsweise 15 Uhr). Frauen*notruf e.V.: Beratung und Hilfe für Frauen und Mädchen ab 14 Jahren bei sexualisierter Gewalt,Belästigung, Stalking, Gewalt in der Partnerschaft, Telefon: 0451 704640, www.frauennotruf-luebeck.de Fachberatungsstelle für Frauen bei häuslicher und sexualisierter Gewalt Bad Segeberg: Hilfe unter Telefon 04551/3818 Sprechzeiten: Montag, Dienstag, Mittwoch und Freitag von 10 bis 12 Uhr, Donnerstag von 14 bis 16 Uhr Frauenfachberatungsstelle/Notruf Stormarn: Telefon: 04531/86 772, montags bis freitags von 9 bis 16 Uhr. Frauenberatung Herzogtum Lauenburg: Telefon: 04151/813 06, Montag bis Freitag 9-13 Uhr Gefangen im Frauenhaus: Bevor Selina K. ihr heutiges Versteck gefunden hatte, saß sie ein ganzes Jahr im Lübecker Frauenhaus. „Als ich sie kennenlernte, lebte sie bereits ein halbes Jahr dort“, erinnert sich Evelin Lell. Selina K. sei suizidgefährdet gewesen. „Im Frauenhaus ist es ein freudloses Dasein, sie hatte ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl. Sie konnte auch nicht alleine raus und brauchte immer Begleitung“, erzählt Lell, und ihre Beschreibung erinnert ein wenig an ein Gefängnis. Nur dass nicht der Täter, sondern das Opfer darin saß. Anklage wird nicht verhandelt: Für Selina K. war der Schrecken nach der Anzeige noch lange nicht vorbei. Sie wurde telefonisch bedroht, ihr Auto zerkratzt und gestohlen, ihre Gartenlaube angezündet. Als am 20. Oktober 2019 die Anklage fertig war und wenige Tage später beim Amtsgericht in Lübeck vorlag, hoffte Selina K., dass es jetzt zur Verhandlung kommt. Doch es passierte nichts, seit über einem Jahr versteckt sich die 46-Jährige jetzt, der Prozess findet nicht statt. Für Anwältin Kerstin Raber ist das trotz des zwischenzeitlichen Lockdowns im Frühjahr unverständlich. Raber: „So schwierig ist der Fall nicht, es gibt einen Angeklagten, eine Geschädigte und die Zahl der Zeugen ist überschaubar. So etwas kann man schneller verhandeln.“ Beim Amtsgericht begründet man die lange Wartezeit hingegen mit dem „Umfang der Sache sowie der Tatsache, dass insgesamt zwei Verteidiger und eine Rechtsanwältin als Geschädigtenvertreterin involviert sind“. „Das macht umfassende Terminabsprachen mit den beteiligten Anwälten erforderlich, so dass nur langfristige Terminierungen möglich sind. Diese konnten angesichts der Coronakrise sowie eines Dezernatswechsel noch nicht erfolgen“, sagt Gerichtssprecherin Corinna Wiggers. Für Raber ist das verwunderlich, denn „nach meinen Unterlagen hat bis heute niemand versucht, in den betreffenden Verfahren Verhandlungstermine mit mir abzustimmen.“ Immer noch kein Verhandlungstermin: Einen Verhandlungstermin gibt es bist heute nicht. Auf LN-Anfrage teilt das Amtsgericht mit, dass das zuständige Dezernat aber beabsichtige, „das Verfahren auf Anfang nächstes Jahr zu terminieren“. Ob der Täter jemals in ein Gefängnis kommen wird, ist unklar. Erst muss die Schuld vor Gericht nachgewiesen werden. „Es könnte vielleicht auch eine Bewährungsstrafe geben“, schätzt Raber. Doch für ihre Mandantin sei noch etwas ganz anderes wichtig. „Sie läuft jetzt seit zwei Jahren damit rum. Ich denke, sie möchte dieses Kapitel endlich abschließen. Doch man lässt sie einfach nicht“ Alle Übergriffe dokumentiert: Selina K. hat alles getan, was sie kann. Sie hat alle Übergriffe dokumentiert, Beweise gesichert, immer wieder die Polizei angerufen. Und vielleicht war das der Fehler. Dass sie alles richtig gemacht hat. Das vermutet ihre Betreuerin. „Es ist fast ein Karton mit Unterlagen. Und wir haben das Gefühl, dass es lästig ist, wenn wir mit so vielen Dingen kommen. Dann heißt es: Was die schon wieder will.“ Rechtsanwältin Kerstin Raber drückt es diplomatisch aus: „Wenn jemand traumatisiert ist oder sehr in dem lebt, was passiert ist und viele Informationen liefert, ist es mühsam, sich damit zu befassen. Wir können nicht sagen, ob es in diesem Fall so ist, aber es kann schon sein, dass so etwas von Ermittlern vor sich hergeschoben wird.“ Wenn Selina K. von ihren Erlebnissen erzählt, kommen ihr die Tränen, auch vor Wut. Sie ist sich sicher, dass die lange Zeit bis zu einem Gerichtstermin noch andere Opfer fordert: „Er wird anderen Frauen das auch antun, denn er weiß jetzt, er kommt damit durch.“ Von Sven Wehde