Wie Lübeck zu seinem Kaiser-Wilhelm-Denkmal kam

In der Morgendämmerung des 30. Mai 1934 rumpelte ein von vier Pferden gezogenes Fuhrwerk vom Hof des Herrenhauses in der Lübecker Exklave Niendorf-Reecke. Auf der Ladefläche stand ein drei Tonnen schweres Reiterstandbild. Um kurz vor sechs kam die Lieferung nach einer langsamen Fahrt über die Moislinger Allee an ihrem Bestimmungsort an: der Danziger Freiheit (heute Lindenplatz). Dort wurde sie ohne Zeremoniell auf einen Granitsockel gehoben. Es sollte das letzte offizielle Kaiser-Wilhelm-Denkmal sein, das in Deutschland aufgestellt wurde. Es steht dort noch heute, frisch restauriert im Auftrag der Hansestadt Lübeck. Dabei hatte es lange so ausgesehen, als würde es nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken – und wären die Nazis nicht an die Macht gekommen, wäre es dabei wohl auch geblieben. Jahrzehntelange Verzögerung: Die Idee, Kaiser Wilhelm I. mit einem Denkmal zu ehren, kam im bürgerlichen Lübeck zuerst 1888 auf, kurz nach dem Tod des Monarchen. Aber die Mühlen mahlten langsam. 1897 wurde vor dem Renaissanceanbau des Rathauses der Grundstein gelegt. Zum Vergleich: Nach dem Tod des Reichskanzlers Otto von Bismarck 1898 dauerte es nur fünf Jahre, bis vor dem Holstentor ein überlebensgroßes Denkmal stand. Ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal gab es da noch nicht einmal als Entwurf. Erst 1912 kam Bewegung in die Sache: Der Berliner Bildhauer Louis Tuaillon bekam den Auftrag für ein Reiterstandbild. Nach weiteren Verzögerungen war 1916 die Gussform fertig. Aber inzwischen war der Erste Weltkrieg in vollem Gang. Metall gab es für Waffen, aber nicht mehr für Kunstwerke. 1918 endeten der Krieg und das deutsche Kaiserreich, 1919 starb der Bildhauer Louis Tuaillon. Ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal gab es in Lübeck nicht. Mehr als 300 Denkmäler für Kaiser Wilhelm I. wurden in Deutschland errichtet – praktisch alle vor 1918. Der größte Anteil entfällt auf die 1890er Jahre. Die meisten Denkmäler sind nicht erhalten. In Ahrensbök (Ostholstein) gibt es noch eine Kaiser-Wilhelm-Büste aus dem Jahr 1891. Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) war das erste Oberhaupt des 1871 gegründeten Deutschen Reichs. Bis dahin war er nur König von Preußen gewesen – einer von vielen deutschen Staaten, die damals unabhängig voneinander existierten. Als Kaiser war er populär. Die Politik des neu gegründeten Reichs wurde allerdings weniger von ihm als von Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) bestimmt. Wilhelm I. war der Großvater des späteren Kaisers Wilhelm II., der Deutschland in den Ersten Weltkrieg führte. 1918 wurde die Monarchie in Deutschland abgeschafft. Ein Privatmann kaufte das Denkmal: Der Lübecker Senat gab 1919 unbeirrt den Guss der Statue in Auftrag. Aber als er sie 1922 im Domhof aufstellen lassen wollte, lehnte die inzwischen von der SPD dominierte Bürgerschaft das ab. Schließlich legte der Kaufmann Siegfried Buchenau 180 000 Mark auf dem Tisch, und das Denkmal wurde ihm an das Herrenhaus des von ihm gepachteten Guts in Niendorf-Reecke gebracht (nachdem es aus Berlin irrtümlich zunächst nach Niendorf/Ostsee geliefert worden war). Nazi-Propaganda zur Aufstellung: Vielleicht würde das Reiterstandbild als Kuriosität noch heute in Reecke stehen. Aber 1934 hatte der Wind sich abermals gedreht. In Lübeck gab es keine sozialdemokratische Opposition mehr gegen das Denkmal. Das Bismarck-Denkmal wurde vom Holstentorplatz an seinen heutigen Standort verlegt, und ihm gegenüber war nun Platz für Kaiser Wilhelm. Für Monarchisten hatten die Nazis zwar nicht viel übrig, aber es fiel ihnen auch nicht schwer, das vergangene Kaiserreich in seine Propaganda zu integrieren. In dem Text einer Urkunde, die in das Denkmal eingefügt wurde, schwadronierte der Senat von der „nationalen Erhebung unter Adolf Hitler“, die wieder „Ehrfurcht vor der Geschichte“ gelehrt habe. Nach allem, was man wissen kann, steckt diese Urkunde noch immer im Innern des Denkmals. Vor wenigen Wochen erst wurden Sockel und Standbild repariert und gereinigt. „Das waren ganz normale Unterhaltungsmaßnahmen“, sagt Irmgard Hunecke, Abteilungsleiterin der Lübecker Denkmalpflege. „Kein Kriegsverbrecher“: Ist das Denkmal noch zeitgemäß? Ein lupenreiner Demokrat war Wilhelm I. genauso wenig wie sein Kanzler Otto von Bismarck. „Ich halte die Erinnerung an Kaiser und Könige für legitim“, sagt dazu der Lübecker Historiker Christian Rathmer. „Und Wilhelm I. und Bismarck sind ja keine Kriegsverbrecher. Sie haben aus Blut und Eisen das geschaffen, was wir heute unter Deutschland verstehen. Man kann sie nicht einfach wegwischen – auch wenn ich keinen der beiden so bewundern würde, wie man es früher getan hat.“ Erinnerung an das Kaiserreich – und an die NS-Zeit: Jan Zimmermann, ebenfalls Historiker in Lübeck, gibt zu bedenken: „Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal erinnert nur zur einen Hälfte an die Geschichte des Kaiserreichs – und zur anderen Hälfte an das NS-Regime.“ Darin sieht er eine Parallele zum lange umstrittenen Hindenburgplatz, der seinen Namen von den Nazis bekam. Inzwischen heißt er wieder Republikplatz. „Benennungen und Ehrungen erfolgen in einer bestimmten Zeit – und sie müssen 100 Jahre später nicht mehr gelten“, sagt Zimmermann. „Auf jeden Fall sollte man die Denkmäler nicht einschmelzen. Ob man aber auf alle Ewigkeit den Eisernen Kanzler und den Kaiser am Lindenplatz stehen haben sollte, ist eine andere Frage.“ Von Hanno Kabel