Zeitreise: Die Baustelle von St. Marien

Der Marienkirchhof wimmelt von Menschen. Ständig laufen Männer zu zweit mit Holzbahren über den Platz, auf denen sie Ziegelsteine von einem großen Haufen zu den Maurern transportieren. An einer der emporwachsenden Wände des mächtigen Langhauses zimmern Arbeiter rohe Bretter zusammen, um das Gerüst mitwachsen zu lassen. Am Rand des Platzes stehen Kinder und sehen einem Schmied zu, der auf eine glühende Eisenstange einschlägt. Ein Mann rührt mit einer breiten Hacke in einem hölzernen Trog Mörtel an. Ein anderer trägt den Mörtel in einer großen, länglichen Schale auf der Schulter zum Gerüst, wo sie an einen Seilzug gehängt wird. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts war die Marienkirche eine romanische Basilika. 1251 begann der Umbau im gotischen Stil. Zunächst war eine Hallenkirche geplant, dann jedoch wurde daraus eine Basilika mit enormen Ausmaßen. In 38,5 Metern Höhe überspannen die Gewölbe das Mittelschiff. Die 125 Meter hohen Türme entstanden im 14. Jahrhundert. Einer der Maurer ist Martin (39) aus der Hundestraße. „Eine Stadt, die Kirchen baut, mit der geht’s aufwärts“, sagt er, während er Ziegelstein auf Ziegelstein schichtet. „Die Kaufleute haben Geld. Hier geben sie’s zu Gottes Lob und Preis aus. Besser geht’s doch nicht, oder? Und für uns Handwerker springt auch was dabei raus.“ Wie die Kirche am Ende aussehen werde, sagt Martin, wisse er nicht genau. „Auf jeden Fall hoch“, sagt er. „Das ist die neue Mode aus Frankreich. Wenn Sie mehr wissen wollen, gehen Sie zu der Hütte da drüben!“ Vor der Bauhütte steht ein kahlköpfiger Mittvierziger und redet aufgeregt auf einen sorgfältig gekleideten, etwas jüngeren Mann ein. „Ja, ich habe 150 Hilfsarbeiter“, schimpft der Kahlkopf, „aber was nützt mir das, wenn die Hälfte nicht kommt, weil sie gerade die Saat ausbringen müssen oder Vieh treiben oder was weiß ich?“ – „Ich besorge dir neue. . .“, sagt der Jüngere beschwichtigend, aber der andere schimpft weiter: „Gestern ist wieder ein ganzer Sack Kalk verschwunden, und die Balken von vorgestern sind auch nicht wieder aufgetaucht! So kann ich nicht...“ Beim Nahen des Reporters verstummt der Kahlkopf. Der Jüngere gibt ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich entfernen solle, setzt ein gewinnendes Lächeln auf und geht auf den Reporter zu. „Nehmen Sie unseren wackeren Bauverwalter nicht gar zu ernst“, sagt er, „er passt eben auf, das ist sein Job. Aber solche Ärgernisse werden Sie auf jeder großen Baustelle finden.“ Damit ist das Thema für ihn erledigt. Er, der Werkmeister, möchte lieber über das große Ganze reden. Er spricht mit flämischem Akzent. „Ich will um Gottes willen nicht unbescheiden sein“, sagt er, „aber es ist nicht zu leugnen, dass wir etwas Neues schaffen. Haben Sie schon mal von Chartres gehört? Von Amiens? Reims?“ Er geht voran in die Bauhütte. Dort steht auf einem Tisch das Modell einer riesigen Basilika, deren Langhaus in einen unerhört hohen Chor übergeht. „Mit diesem Modell habe ich die Kaufleute überzeugt“, sagt er. „Zu Gottes Ehre werden wir ein nordisches Reims schaffen! Aber wenn wir genug Sandstein hierherbringen wollten“, der Werkmeister lächelt, „hätten wir im 21. Die bisher erschienenen Folgen dieser Serie finden Sie unter www.LN-Online.de/Zeitreise Jahrhundert noch immer keine neue Kirche, und vielleicht ist Lübeck bis dahin pleite! Also bauen wir unser Chartres aus Backstein, davon gibt’s hier genug. Und ich bin sicher, unsere Nachgeborenen werden Türme sehen, höher und schöner als alles, was. . .“ Plötzlich geht die Tür auf, und mit hochrotem Kopf stürmt der Bauverwalter herein. „Kannst du diesen Ratsherren sagen, dass sie auf der Baustelle nichts zu suchen haben? Wenn ich mich auch noch mit diesen Klugsch. . .“ Der Werkmeister unterbricht ihn, zum Reporter gewandt: „Wenn Sie noch Fragen haben. . .“ „Ja: Ihr Name?“ Der Werkmeister scheint ehrlich erstaunt. „Warum denn das?“ „Na ja, Sie sind hier der Chef.“ „Aber für mich wird die Kirche doch nicht gebaut! Hören Sie, ich kenne die Gepflogenheiten Ihres Jahrhunderts nicht, aber ich muss Sie bitten, mich wieder an meine Arbeit zu lassen.“ Er zieht die Tür zu. Es beginnt zu dämmern. Die Bauarbeiter zerstreuen sich. Das hohe Kirchenschiff zeichnet sich gegen den Abendhimmel ab. Hanno Kabel

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