Eutin und seine Geschichte: Gedenksteine erzürnen Urlauberin

„Unglauben und Fassungslosigkeit“ haben Urlauberin Jenny Newiak überkommen, die Eutin bei ihrem Besuch zunächst als „hübsches Städtchen“ wahrgenommen hat, aber dann an Inschriften von Gedenksteinen hängengeblieben ist. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem kolonialen und faschistischen Erbe habe in Eutin offensichtlich nicht beziehungsweise nur unzureichend stattgefunden, klagt Jenny Newiak. Sie fordert die Stadt und die Fraktionsvorsitzenden der Parteien auf, diese Denkmäler geschichtlich aufzuarbeiten. Im Fokus: Gedenksteine an der Oldenburger Landstraße: Besonders hat sich die Urlauberin aus Drensteinfurt bei Münster in Nordrhein-Westfalen an dem Gedenkstein an der Oldenburger Landstraße gestört, der die Aufschrift „1945-1965. Wo unsere Toten ruhen, liegt unsere Heimat! Wo unsere Heimat liegt, lebt unser Recht!“ trägt. Mit ernster Miene hat sie sich daneben stehend fotografieren lassen. Auch der zweite Gedenkstein „Heimat im Osten. Unvergessen“, ebenfalls an der Oldenburger Landstraße (bis 2015 an der Stadtbucht), ist Jenny Newiak ein Dorn im Auge. „Dass Schleswig-Holstein und Eutin mit der NSDAP und dem Nazireich eng verbandelt waren, ist mir bekannt“, sagt Newiak, „ebenso, dass sowohl die Kolonialisierung afrikanischer Länder durch das deutsche Reich als auch der Handel mit Kolonialwaren an den Küsten der Nord- und Ostsee starteten.“ Aber überall würde heutzutage öffentlich der Frieden beschworen, es liefen weltweit antirassistische und antikoloniale Bewegungen. Die Zeit müsse an den Verantwortlichen der Stadt Eutin und den Bürgern vorbeigegangen sein, wenn noch immer solche Gedenkplatten öffentlich und unkommentiert in Parks stünden oder in der Schule hängen würden, so Jenny Newiak. Bürgergemeinschaft begrüßt eine Diskussion: Aus dem Rathaus heißt es zu ihrem Schreiben: „Diese Eingabe hat uns überrascht, wir müssen das prüfen. Die Steine wurden alle schon vor sehr langer Zeit aufgestellt. Jeweils im historischen Kontext.“ Eine Bewertung dazu sollten Historiker vornehmen. Regine Jepp, langjährige Sprecherin der Bürgergemeinschaft Eutin, weiß zu berichten, dass der große Findling am 9. März 1965, im „Jahr der Menschlichkeit“, im Auftrag des Bundes der Vertriebenen aufgestellt worden ist. „Er soll als Mahnmal an Unrecht und Vertreibung erinnern“, sagt sie. Vom jetzigen Vorstand der Bürgergemeinschaft, die sich seit vielen Jahren der Stadtgeschichte widmet, heißt es: „Die beanstandeten Inschriften sind aus ihrer Zeit heraus zu betrachten. Sie spiegeln allerdings ein Weltbild, das schwer mit einer heutigen kritischen Auseinandersetzung mit Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkrieges zu vereinbaren ist.“ Die Forderung nach einer öffentlichen Diskussion zu diesen und ähnlichen Inschriften hält die Bürgergemeinschaft für angemessen. „Vergangenheit lässt sich nicht ungeschehen machen oder leugnen. Aber wir Heutigen, obwohl frei von persönlicher Schuld, tragen eine Verantwortung, alles für ein ,Nie wieder’ zu tun. Dazu kann auch eine Kommentierung alter Inschriften gehören, wie sie derzeit auch anderenorts stattfindet“, sagt der Vorstand. Grüne widersprechen Urlauberin energisch: Monika Obieray von den Grünen entgegnet der Urlauberin: „Wir wissen, dass es diese Gedenktafeln in Eutin noch gibt. Aber daraus zu schließen, dass ,eine kritische Auseinandersetzung mit dem kolonialen und faschistischen Erbe in Eutin offensichtlich nicht beziehungsweise nur unzureichend stattgefunden hat, ist ein Fehlschluss“, sagt sie. Die Stadt sei Mitglied bei dem Verein „Gedenkstätte Ahrensbök“, der es sich zur Aufgabe macht, jungen Menschen heute nahezubringen, wie Faschismus im Alltag entstehen konnte. „Es gibt einen engagierten Friedenskreis in Eutin und ein Bürgerbündnis für Toleranz und Solidarität, welches einen sehr wachen Blick auf den Alltags-Faschismus von heute hat“, so Monika Obieray. Man könne die Schlachten der Vergangenheit um die Gedenktafeln noch einmal schlagen. „Aber angesichts der aktuellen Sorgen um die Spaltung der Gesellschaft und den drohenden Demokratieverlust müssen wir unsere Energie darauf fokussieren, alles für eine friedliche, tolerante, solidarische Gesellschaft heute zu tun“, fordert sie. CDU findet Schlussfolgerungen respektlos: „Sicher ist das Angesprochene von Frau Newiak ein Thema – die Art und Weise, wie sie dies ausführt und welche Schlüsse sie zieht, ist respektlos“, sagt Matthias Rachfahl (CDU). Er sieht zuallererst die Verwaltung in der Pflicht, eine Aufstellung der vorhandenen Denkmäler mit Sprüchen und Zitaten zu liefern. „Danach wird es darum gehen, wie Politik die Denkmäler individuell bewertet, um dann entsprechend Schlüsse daraus zu ziehen“, erklärt Rachfahl. Von den anderen Fraktionen sind nach LN-Anfrage keine Stellungnahmen eingegangen. Lesen Sie auch Als in Bad Segeberg die Nazis Bücher verbrannten Beleuchtungs-Flashmob in Eutin, Neustadt und Haffkrug soll an Opfer des Holocaust erinnern LN-Archiv: Ostholsteiner Straßen nach Nazi-Schriftstellern benannt Von Ulrike Benthien