Lernen im Lockdown: Nachhilfelehrer in Ostholstein in Sorge um Schüler

Wer als Elternteil momentan seinen Nachwuchs durch das Homeschooling begleitet, kennt vermutlich den Impuls: Wie gern würde man das ganze Thema einfach in gute Hände abgeben! Schließlich kostet das Erklären und Motivieren Zeit und Nerven. Beides ist in der Pandemie oft Mangelware. Und da die Schulen nun einmal geschlossen sind – warum nicht einen Nachhilfelehrer engagieren? Jeden Tag Einzelunterricht vom Nachhilfelehrer – „das muss man sich leisten können“: „Ja, diese Fälle gibt es durchaus“, bestätigt Robin Pal, langjähriger Schülerhilfe-Franchisenehmer für Timmendorfer Strand und Neustadt. Da buchten Eltern für jeden Schultag der Woche Einzelunterricht – „aber das muss man sich natürlich leisten können.“ Allerdings seien gerade im touristisch geprägten Ostholstein viele Familien durch Corona und damit verbundene Kurzarbeit oder gar Jobverlust in finanzielle Schieflage geraten. Viele hätten daher momentan Skrupel, sich vertraglich zu binden. „Insgesamt ist die Nachfrage bei uns eher gesunken“, so Pal. Auch nehme er einen gewissen Online-Verdruss wahr: Zusätzlich zu den von der Schule angesetzten Videokonferenzen würden viele keine weiteren Netz-Meetings mehr wollen. „Dabei läuft die Technik bei uns stabil“, so Pal. Er befürchtet, dass das Bildungsniveau durch Corona weiter auseinander driften wird. „Das ist eine schwierige Situation, denn während die einen die technischen und auch räumlichen Möglichkeiten für das Homeschooling haben, gibt es in anderen Familien echte Schwierigkeiten.“ Befürchtung: Nach dem Lockdown wird das Tempo angezogen – und nicht jeder hält mit: Holger Liß hat ähnliche Erfahrungen im Lockdown gemacht. Er betreibt das Abacus-Nachhilfeinstitut für die Standorte Bad Schwartau, Neustadt, Eutin und Oldenburg – und berichtet von „echten Bildungslücken“, die der Corona-Lockdown bei den Schülern reiße. Zwangsläufig, denn vieles an Stoff bliebe einfach auf der Strecke. Vermutlich, so Liß, gebe es nach dem Lockdown einen Schnelldurchlauf. „Doch wenn das Tempo weiter angezogen wird, kommt der ganz normale Schüler nicht mehr mit“. Gerade für Grundschüler sei das Distanzlernen mit Videokonferenzen und viel Eigenengagement nicht gut machbar, hinzu kämen die „nicht immer ganz perfekten“ technischen Möglichkeiten der Schulen. Wer etwas nicht gleich verstehe, der habe wenig Möglichkeiten, nachzufragen. Gleichzeitig fehle sowohl Kindern als auch Eltern die Vergleichsmöglichkeit. Lücken würden somit erst später ins Auge fallen. „Die Spanne zwischen stärkeren und schwächeren Schülern wird größer“: Schülerhilfe-Inhaber Pal kennt die Problematik des Schul-Lockdowns auch als Familienvater. „Da werden oftmals neue Aufgaben gestellt und kaum oder gar nicht erklärt. Damit kommt nicht jeder Schüler zurecht.“ Einige Klassen bekämen regelmäßig Online-Unterricht, andere dagegen fast ausschließlich Arbeitsmaterial „zum Eigenstudium“. Seiner Meinung nach ein großes gesellschaftliches Problem, denn: „Die Spanne zwischen den guten und den schlechteren Schülern wird größer.“ „Homeschooling stresst und überfordert viele Eltern“, sagt auch Schülerhilfe-Sprecherin Denise Kirchberger. Acht von zehn Eltern machten sich Sorgen über die schulische Entwicklung ihrer Kinder, zitiert sie eine Umfrage der Schülerhilfe. Und als das Forsa-Institut im Dezember 2020 eine repräsentative Erhebung unter mehr als 1000 Lehrern vornahm, sahen 67 Prozent bei einem Großteil ihrer Schüler bereits messbare Lernrückstände. Ein Konzept zum Aufholen der Lern-Rückstände? Fehlanzeige: Wie diese wieder aufgeholt werden sollen? Das fragt sich auch Birgit Kalläne, Vorsitzende des Kreiselternbeirates für Gymnasien in Ostholstein. „Bisher fehlt hier jedes Konzept.“ Fakt sei, dass Kinder aus sozial schwachen oder bildungsfernen Haushalten am stärksten betroffen seien. Ohne Nachhilfe oder Eltern, die sich vehement kümmerten, würde Versäumtes und nicht Verstandenes eben erst nach der Schulöffnung ins Auge fallen. „Es gibt Lehrer, die sich sehr kümmern, die Schüler anrufen, nachfragen, ob alles in Ordnung ist“, so Kalläne. Doch das sei nicht die Regel. Zudem falle im Lockdown vielerorts auch das schulische, niedrigschwellige Nachhilfe- und Förderangebot flach. Soziale Ungleichheit schlage hier voll auf den Homeschooling-Erfolg der Kinder und Jugendlichen durch. „Wer Videokonferenzen vom Handy aus folgen muss, weil kein Laptop zur Verfügung steht, der ermüdet schneller und bekommt nicht alles mit, kann auf dem kleinen Display nicht alles lesen“, sagt Kalläne. Auch einen Drucker für das Arbeitsmaterial habe nicht jede Familie, und selbst der Zugang zu den von den Schulen zur Verfügung gestellten Tablets sei für manche eine zu hohe Hürde: „Nicht alle Familien mit einem Anspruch haben diese auch abgefragt.“ Wenig Rückkopplung zum Leistungsstand während des Lockdowns: Insgesamt seien die Schüler sehr sich selbst überlassen und erhielten wenig Rückkopplung zum Stand ihres Lernens, was vor allem den Abschlussjahrgängen Sorge bereite. Auch den Eltern fehle der Vergleichsmoment durch Tests und Klassenarbeiten. „Woher sollen sie da wissen, dass ihr Kind nicht mehr dabei ist?“ Im Prinzip, so Kalläne, müsse der Lehrplan nach der Pandemie entsprechend ausgedünnt werden, doch: „Das würde bedeuten, dass man alle Jahrgänge, ausgehend vom aktuellen, neu schreiben müsste.“ Dieses „konzeptionelle Umdenken“ sehe sie aktuell jedoch nicht. Eine Wiederholung des Schuljahrs, wie vielfach angeregt, sei logistisch kaum zu stemmen: „Wo sollen die Räume herkommen und die Lehrkräfte?“ Lesen Sie auch Üppige Spende: 36 neue Tablets für die Grundschule Scharbeutz. Ab wann gilt Schleswig-Holsteins Stufenplan zur Corona-Lockerung? Experten antworten Ostholstein: Notfallseelsorger bekommen Hilfe von zwei Stofftieren Das Schuljahr noch retten – durch Gratis-Nachhilfe? Mit ihrer Idee, das Schuljahr noch „zu retten“, haben sich jetzt fünf führende deutsche Nachhilfe-Institute sowie der VNN Bundesverband Nachhilfe- und Nachmittagsschulen in einem offenen Brief an die Bundes- und Landesminister für Bildung und Familien gewandt. „Täglich erleben wir, wie Lernlücken sich während der Schulschließungen vergrößern“, heißt es darin. „Wir sprechen mit verzweifelten Eltern. Und wir erleben, wie gerade sozial schwächere Familien den Anschluss verlieren.“ Institute und Bundesverband schlagen vor, die Politik möge allen Eltern kostenlos und unbürokratisch Sofort-Nachhilfe zur Verfügung stellen, „zum Beispiel zehn bis 20 Doppelstunden“ Auch eine Sommerschule mithilfe der Institute, wie es Mecklenburg-Vorpommern und Berlin im vergangenen Jahr bereits für Tausende Schüler umgesetzt hätten, wäre sinnvoll. Dabei waren „Berechtigungsscheine“ verteilt worden, die Wahl des Anbieters war frei. Die Abrechnung erfolgte zwischen Nachhilfeschulen und Ländern oder Kommunen. Verantwortung für Versäumtes nicht auf die Schüler abwälzen: Auf eine Weise müsse das Entfallene nachgeholt werden, von Seiten der Schulen und gegebenenfalls mit Unterstützung von Nachhilfelehrern, sagt Abacus-Inhaber Liß. Den Schülern selbst dürfe man jedenfalls nicht die Verantwortung zuschieben. „Wer nimmt schon freiwillig ein Mathebuch zur Hand und kümmert sich um das, was nicht gemacht wurde“, so Liß. „Das wird von alleine nicht kommen.“ Von Annika Langhagel