Oldenburg: Jens Junkersdorfs Spurensuche nach dem Helden von Deventer

Der letzte Satz, den Ernst Gräwe am 10. April 1945 sprach, ist belegt: „Ich bin nicht gekommen, um zu töten, sondern um zu helfen.“ So hat es ein 13-jähriger Junge gehört, der an jenem Tag im holländischen Deventer beobachtete, was sich unter seinem Fenster ereignete. Wenige Minuten später war Ernst Gräwe tot. Sein eigener Offizier hatte ihn hinter einer Mauer mit einem Kopfschuss niedergestreckt. Gräwe hatte sich geweigert, an einem Erschießungskommando für fünf Widerstandskämpfer teilzunehmen. An diesem Frühlingstag kämpft Gräwes Einheit, die 6. Fallschirmjäger-Division, in Deventer. Die Soldaten hören schon das Geschützfeuer der Kanadier, die die Stadt nur 45 Minuten nach Gräwes Ermordung einnehmen. „Komm schon, das ist sinnlos. Schau da. Da sind kanadische Panzer“, soll er gesagt haben, als er aufgefordert wurde, die fünf Holländer zu erschießen. Seinen Widerstand bezahlte Gräwe mit dem Leben und seine Frau Hildegard mit der lebenslangen Ungewissheit, was aus ihrem Mann geworden ist und wo er begraben liegt. Ihr wurde lediglich mitgeteilt, er sei gefallen. Das Twentol-Drama bezeichnet den Versuch und das Scheitern von einer kleinen Gruppe von Widerstandskämpfern. Die sieben Männer und Frauen wollten die Deutschen daran hindern, eine Brücke über die Issel zu sprengen. In ihrem Versteck, einer Schmiermittelfabrik mit Namen Twentol, sterben zwei von ihnen bei Kämpfen mit den Deutschen, fünf werden festgenommen und sollten umgehend erschossen werden. Ernst Gräwe weigert sich und wird als erster ermordet, dann folgen die anderen fünf. Ein Denkmal erinnert in Deventer an die sieben Widerstandskämpfer. Eine zweite, kleinere Tafel erinnert an Ernst Gräwe, der sich weigerte, die Menschen zu ermorden. In diesen Tagen ist sein Schicksal auch in seiner Heimatstadt Unna bekanntgeworden. Ein Praktikant im Stadtarchiv hat seine Geschichte entdeckt. Die Grünen regen an, in würdiger Form an Gräwe zu erinnern. Jens Junkersdorf wünscht sich, dass eine Straße nach Ernst Gräwe benannt oder ein Stolperstein für ihn verlegt wird. Grabstelle per Zufall gefunden: Wo Gräwes Grab liegt, fand ihr Enkel Jens Junkersdorf, selbst Soldat, Kreistagsabgeordneter und CDU-Stadtrat in Oldenburg, erst 2008 oder 2009 – genau weiß er das nicht mehr – durch Zufall heraus. Er kannte den Namen Ernst Gräwe und dessen Geburts- und Todesdatum, aber nicht viel mehr. Bei einem Besuch auf dem Soldatenfriedhof im holländischen Ysselsteyn fiel sein Blick zufällig auf den Grabstein mit Gräwes Namen. Er hatte das Grab gefunden, von dem sich seine Großmutter so sehr gewünscht hatte, es zu kennen. Ernst Gräwe war die große Liebe von Hildegard Bernhardine Latta. Das Paar heiratete im September 1942 in Gräwes Heimatstadt Unna. Im Juni 1944 kam ihr erstes Kind Udo Ernst Erich Gräwe zur Welt. Da war sein Vater längst wieder an der Front. Ein Foto zeigt die Eheleute in trauter Zweisamkeit. Junkersdorf datiert es anhand des militärischen Rangs von Gräwe auf etwa 1943. Vielleicht war es das letzte Beisammensein der beiden. Junkersdorfs Großmutter Hildegard sollte alles verlieren. Den Mann. Den Sohn, der nur 13 Tage nach dem Mord an seinem Vater an einer Lungenentzündung starb. Hildegard Gräwe heiratete später wieder, ihre Tochter Renate ist Junkersdorfs Mutter. Der hat mittlerweile zahlreiche Zeugnisse über Ernst Gräwe zusammengetragen und kann damit dessen Lebensweg und seine Laufbahn als Soldat ziemlich gut nachvollziehen. Ein Foto und ein Soldbuch: Für Hildegard Gräwe kommt das zu spät. Sie starb 1981, als Junkersdorf ein Jahr alt war. Er hat keine Erinnerung an sie, weiß aber, wie sehr sie der Verlust von Mann und Sohn getroffen hat. Vor allem hat sie darunter gelitten, dass sie nie genau wusste, was aus ihrem Mann geworden ist. „Ich habe von meiner Mutter erfahren, wie sehr sie das beschäftigt hat“, berichtet Junkersdorf. Das Hochzeitsfoto von Hildegard und Ernst hing lange im Flur der Familie. Sonst ist von Gräwe sein Soldbuch geblieben. „Es ist erstaunlich, dass es nach Hause gekommen ist“, sagt Junkersdorf. Üblicherweise wurde das Soldbuch eines gefallenen Soldaten in seine Personalakte gelegt. „Ich gehe davon aus, dass seine Erschießung vertuscht werden sollte und man es deshalb zu ihm nach Hause geschickt hat“, sagt Junkersdorf. Er hat inzwischen herausgefunden, dass Ernst Gräwe zunächst in Deventer beerdigt und später auf den Soldatenfriedhof Ysselsteyn umgebettet wurde. Das belegen Unterlagen, die Junkersdorf vorliegen. Für den Soldaten und CDU-Politiker aus Oldenburg ist neben der Familiengeschichte wichtig, dass Ernst Gräwe ein Mann war, der für seine Überzeugungen einstand und dafür mit seinem Leben bezahlte. „Es geht darum, dass man auf Dunkles und Helles in der Geschichte zurückblicken muss und wie Frieden und Freiheit zu bewerten sind. Das ist etwas ganz Fragiles.“ Geschichten wie die von Ernst Gräwe seien ein Mahnmal und Lichtblicke in einer dunklen Zeit. Junkersdorfs Forderung: „Man sollte sich immer besinnen, wo die Feinde von Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit sind. Deshalb müssen wir immer schauen, wie wir Politik machen.“ Ärger um Lockerung: Nur ein Bruchteil der Dauercamper kann anreisen LN-Quiz: Der schlaueste Ostholsteiner ist gefunden Hilfe in Corona: Niendorfer Vogelpark bedankt sich für viele Spenden Deshalb ist Ostholsteins Luft so gesund Stilles Gedenken an „Cap Arcona“ und „Thielbeck“ Von Susanne Peyronnet

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