Feindbild Tourist: Warum über Tagesgäste hergezogen wird

Kaum ist der Winter vorbei, geht es wieder los. Mit den ersten Vorfrühlingstagen kommen mehr Ausflügler an die Küste, und damit beginnen erneut die verbalen Angriffe auf sie. Vor allem in Facebook-Kommentaren zu Berichten über Wochenend-Ausflügler werden Tagesgäste verbal angegriffen, bepöbelt und aufgefordert, gefälligst zu Hause zu bleiben. Gerne mit dem Zusatz: „Was ist daran so schwer zu verstehen?“ Eine Psychiaterin glaubt, dass solche Angriff eher noch heftiger werden. Warum es zu diesen Anfeindungen von Tagestouristen kommt, kann Dr. Verena Hilmer-Krywka, Chefärztin der Ameos-Klinika Kiel und Preetz, erklären. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Neurologie und Psychotherapeutin, sieht die Ursache in der gegenwärtigen Situation, in der alle stecken. „Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass wir seit einem Jahr im offenen Vollzug leben“, charakterisiert sie die Situation. Das Gefühl, eingesperrt zu sein: Da komme bei den Menschen einiges zusammen: die Angst, sich anzustecken, die auch von den Medien befeuert werde. „Wir gucken Fernsehen, und auf allen Kanälen ist Corona.“ Wie hoch die Ansteckungsgefahr sei, könnten manche nicht mehr rational einschätzen. „Sie sehen mit dem Gefühl des Eingesperrtseins, dass andere rausgehen. Dann kommen die Fremden, und das Fremde ist immer bedrohlich.“ Darauf gebe es zwei natürliche Reaktionen. „Entweder, ich ziehe mich zurück, aber das will ich nicht mehr. Also werde ich aggressiv“, beschreibt Hilmer-Krywka den Auslöser der Pöbeleien und Beschimpfungen. Wie weit die Anfeindungen gehen können, zeigt der Kommentar eines Facebook-Users, der zwar anmerkt, es sei Ironie, dessen Worte aber ein schon im vergangenen Sommer beobachtetes Phänomen beleuchten: „Unberechtigte Autos beschlagnahmen und samt Inhalt ab in die Presse. Personen dürfen ggfs vorher aussteigen.“ Es wird wieder nach Autos mit fremden Kennzeichen geguckt. Wer gehört hier nicht her? Was will der hier? Oder wie es jemand anders ausdrückt: „Die sollen bloß alle da bleiben wo sie wohnen und nicht zu uns an die Küste kommen. Heute in Pelzerhaken Menschenmassen, und wo sie alle herkommen, aber kein Auto aus OH.“ Wenig Verständnis für Feindbild Tourist: Nur wenige argumentieren dagegen an. Dennis (35) etwa, gebürtig von der Küste, der heute in Hamburg wohnt, sich aber an der Ostsee zu Hause fühlt, dort seine Familie und seine Freunde hat und gerne dorthin fährt. „Ich betrachte das mit Bauchschmerzen“, sagt er, und das ihm das alles viel zu pauschal sei. „Ich kann das Feindbild Tourist nicht nachvollziehen. Die Objektivität geht diesen Leuten verloren.“ Zumal Experten sagen, dass Spazierengehen und sich im Freien aufzuhalten kein Risiko für eine Infektion berge, weil es keine Ansteckung durch Aerosolpartikel gebe. „Ich habe etwas dagegen, wenn die Menschen pauschalisieren“, sagt Dennis. Wenn ihm dann noch vorgeworfen werde, als Tagesbesucher dafür verantwortlich zu sein, dass Menschen sterben, habe er null Verständnis dafür. Sein Fazit: „Man soll sich an die Regeln halten, aber nicht anfangen mit so einer Hexenjagd. Damit ist keinem geholfen.“ Lesen Sie auch Ansturm auf die Küste: Wer ist ein Tagestourist? Urlaub an der Ostsee: Keine Tagestouristen am Wochenende mehr? Besuchsverbot für Tagestouristen? Das sind die Reaktionen an der Ostsee. Immer wieder werden die Tagesausflügler aufgefordert, gefälligst zu Hause zu bleiben. „Stay home“ sei das Gebot der Stunde. Allerdings gibt es gar kein Verbot, am Wochenende die Küstenorte in Ostholstein zu besuchen. Es gibt auch keine Corona-Regel, die Menschen verpflichtet, zu Hause zu bleiben, keine Ausgangssperren und keinen eingeschränkten Bewegungsradius von 15 Kilometern bei Inzidenzen unter 200. Die werden zurzeit in Schleswig-Holstein und auch in Hamburg nicht erreicht. Das sieht auch Dennis so: „Was sollen die Verweise auf ,stay at home’ andauernd? Es gibt kein Gesetz oder ähnliches, welches besagt, dass man sich zu Hause aufzuhalten hat.“ Corona-Outdoorshaming: Ein Verhalten wie im vergangenen Sommer: Das Genöle hat wie vieles in der Pandemie jetzt einen schönen Namen bekommen: Corona-Outdoorshaming. Das Phänomen selbst ist bereits seit Beginn der Pandemie bekannt und hat im Frühjahr und Sommer 2020 heftig um sich gegriffen. Auswärtige wurden in Ostholstein offen angefeindet. Für Psychotherapeutin Hilmer-Krywka ist nachvollziehbar, dass die Nerven bei manchen Menschen blank liegen. Zumal Sport oder Festivals oder Discos, also alles, wo sich Menschen austoben können, nicht zur Verfügung stehen. „Die Aggression muss sich entladen, und das auf zunehmend destruktive Weise.“ Solche Extremsituationen, wie sie gerade herrschen, polarisierten immer. Hilmer-Krywka: „Je länger sie anhalten, desto extremer werden sie an beiden Polen.“ Von Susanne Peyronnet

Ostholstein: Feindbild Tourismus - Warum über Tagesgäste hergezogen wird