Poesie mit 84: Seniorin aus Timmendorf macht Hoffnung in Corona-Zeiten

Es sind die kleinen Momente, die Heidi Döring in diesen Zeiten das Herz erfreuen. Eine Krähe, die akribisch die drapierten Walnüsse im Garten einsammelt und im angrenzenden Hang verbuddelt. Ein Eichhörnchen, das durch den Garten hüpft. Eine Meise, die fröhlich im Apfelbaum zwitschert. Mit ihren 84 Jahren hat Heidi Döring aus Timmendorfer Strand es gerade in Zeiten der Corona-Pandemie nicht leicht. Doch statt zu jammern, möchte die Seniorin anderen Mut machen. Dazu hat sie jetzt ein bewegendes Gedicht geschrieben. „Die Emotionen müssen einfach raus“: „Die Gedanken dazu kamen mir mitten in der Nacht“, erzählt sie. „Da bin ich aufgestanden und habe sie niedergeschrieben. Das sind einfach Emotionen, die raus müssen“. Der Text, der in dieser Nacht entstanden ist, erzählt auch ein wenig ihre Geschichte. Von fehlenden Treffen mit Freunden, der Zeit, die sich vom „Sessel durchs Zimmer schleicht“. Von Tagen voller Schmerzen, an denen Heidi Döring es nur mit starken Tabletten aushält. Heidi Döring appelliert an die Vernunft: Aber das Gedicht ist auch ein Mutmacher. Denn schnell wird klar: Heidi Döring hätte vermutlich einige Gründe zu klagen. Aber sie tut es nicht. „Weil ich glücklich bin, trotz alledem“, sagt sie. Mit ihrer positiven Art und der Dankbarkeit gegenüber dem Leben ist sie ein Vorbild für viele. Das bestätigen auch ihre Freunde, denen sie ihr Gedicht geschickt hat. „Auf meinen Text habe ich schon viele Rückmeldungen bekommen. Viele haben gesagt, ich spreche ihnen aus der Seele“, erzählt sie. In ihrem Gedicht appelliert sie aber auch an all diejenigen, die sich derzeit nicht an die Regeln halten. Heidi Döring mahnt, dass die Pandemie nur mit Verzicht und Disziplin zu schaffen sei. „Wer es nicht erträgt auf eine Party zu verzichten. Wer meint, seine Freiheit sei beschnitten, der hat noch nie richtig gelitten“, heißt es darin beispielsweise. Die 84-Jährige dagegen weiß, wie es ist, nichts zu Essen zu haben. Wie es ist, wenn der Krieg allgegenwärtig ist. Dankbar für die tägliche Zeitung: „Ich bin pragmatisch. Wenn man was ändern kann, dann wäre ich sofort dabei. Aber was man nicht ändern kann, das muss man durchhalten.“ Das Jammern liegt ihr nicht. „Wir haben genug zu essen und ein Dach über dem Kopf. Man kann doch froh sein, wenn man ein Zuhause hat, in dem man bleiben darf“, sagt sie. Die Timmendorferin freut sich über den Duft von frisch gebackenem Brot, über die Lübecker Nachrichten, die ihr ein Zusteller mitten in der Nacht bringt, über einen Anruf oder eine Nachricht ihrer sechs Enkelkinder, zu denen sie ein enges Verhältnis hat. In ihrem gemütlichen Häuschen in Timmendorfer Strand lebt sie gemeinsam mit ihrer guten Fee „Ella“. Die patente Polin hilft Heidi Döring seit mittlerweile vier Jahren bei der Bewältigung des Alltags. „Ohne sie wäre ich aufgeschmissen, sie ist meine große Stütze“, sagt die 84-Jährige. Mit ihr zusammen kocht die Seniorin gerne. „Letztens haben wir Zanderfilet gebraten und dazu Risi-Bisi und Blattspinat gemacht. Dann haben wir unserer Nachbarin eine Portion gebracht.“ Ein Herings-Essen mit Günter Grass: Mit dem Essen eine Freude zu bereiten, sei gerade in Corona-Zeiten ein schönes Zeichen. Auch wenn Heidi Döring noch lieber alle Menschen zu sich einladen würde. So wie einst Günter Grass. „Das war nach einer Lesung, da hab ich gedacht, er braucht doch auch was Leckeres zu essen“, erzählt Döring. „Und da habe ich hinterher Heringe für uns gebraten.“ Sie hat viele schöne Erinnerungen. An Zeiten, in denen hochrangige Künstler in ihrem Haus ein- und ausgingen. An fröhliche Abende im Garten, an Reisen und Familienfeste. Mittlerweile fällt Heidi Döring das Laufen schwer, die meiste Zeit verbringt sie im Rollstuhl. Aber sie gibt sich nie auf. „Jeden Tag lauf ich ein paar Runden auf meiner Terrasse. Und jeden Abend gehe ich vor die Haustür und mache ein paar Minuten Gymnastik“, sagt sie. Dass sie mit ihren 84 Jahren sogar einen modernen Begriff wie „Poetry-Slam“ verwendet, ist für die Seniorin übrigens nichts Ungewöhnliches. Auch, wenn sie ihr Gedicht nicht, wie bei Poetry-Slams eigentlich üblich, auf einer Bühne präsentiert, sondern es stattdessen an Freunde schickt und den LN im Video vorträgt. „Man muss immer am Puls der Zeit bleiben“, sagt sie. Sich mit Gedichten, Texten und Worten mitzuteilen, ist die große Stärke der gelernten Buchhändlerin. Die Zeit schleicht, vom Sessel durchs Zimmer, hinaus in den Garten. Jeden Tag das gleiche Programm. Der Virus, Corona genannt, lässt alles verstummen, alles, was beliebt und bekannt. Konzert, Theater und langsam und leis, auch das Treffen im Freundeskreis. Einkaufen mit Abstand, Maske und Wagen als Zwischenraum. Vertraute Menschen erkennt man nicht, die Maske versteckt das Gesicht. Und geht man nach Haus, sieht alles genau so aus, wie am Tage vorher. Die Zeit schleicht, vom Sessel durchs Zimmer hinaus in den Garten. Jeden Tag das gleiche Programm. So könnte ich weiter klagen, in all diesen Tagen. Doch es reicht ja schon, dass ich Schmerzen habe und Morphium nehme und mich im Rollstuhl bewege. So hab’ ich kurzerhand beschlossen, in diesen Tagen nicht zu klagen, sondern von guten Dingen zu singen: Ich bin glücklich, denn ich werde rund um die Uhr betreut, von meiner polnischen, liebevollen Pflegerin. Aus meinem eigenen Haus schaue auf meinen Garten hinaus. Im Apfelbaum beim Futterhaus sitzen Blaumeise, Grünfink und Gimpel. Und es ist ganz simpel, es sind die kleinen Freuden, die Sachen, die diese Tage heller machen. Zum Beispiel hat man viel mehr Zeit zum Lesen. Dankbar bin ich auch dafür, dass morgens die Zeitung vor meiner Tür. Da hat ein Mensch in dunkler Nacht mir das Neueste vom Tage gebracht. Die Lübecker Nachrichten lese ich seit 56 Jahren. Und auch sie sind Helfer in diesen Tagen. Es werden Informationen geliefert und die Regeln während dieser Pandemie erläutert. Und es ist Pflicht für jedermann, sich daran zu halten. Um sich und andere zu schützen. Und wem es zu viel ist, eine Maske zu tragen, oder sich die Hände zu waschen, oder wer es nicht erträgt auf eine Party zu verzichten, wer meint, seine Freiheit sei beschnitten, der hat noch nie richtig gelitten. Ich will gar nicht von Krieg und Hunger und Flucht erzählen, musste ich leider durchleben. Lasst euch eine Maske geben, um die Krankenhäuser zu entlasten. Bleiben wir geduldig, bis das Impfen funktioniert. Ich habe noch keinen Termin, nun das zieht sich eben hin. Ich wünsche allen Gesundheit und menschliche Nähe, trotz Abstand. Ich meine sowas wie, mir ein Brot vor die Tür legen, selbstgebacken mit viel Liebe. Backen, auch eine gute Beschäftigung in der eintönigen Zeit. Und damit trifft sie tatsächlich den Nerv der Zeit. Denn Poetry-Slam-Texte sorgen weltweit immer wieder für Aufsehen. Bei der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden beispielsweise hat die Lyrikerin Amanda Gorman mit ihrem Text über die Wunden der Vergangenheit, über Demokratie, Barmherzigkeit und Versöhnung Millionen Zuschauer berührt. Von Maike Wegner