Sie geben den Opfern ein Gesicht

Ruth Jurkat hält ein kleines Heft in der Hand und liest daraus vor — von Erlebnissen auf dem Balkan, von anderen Kameraden und auch davon, dass der Schreiber nach langer Zeit endlich mal wieder auf einer Matratze schlafen konnte. „Das alles wusste ich gar nicht“, wundert sich die 81-Jährige. Eines aber weiß sie ganz genau: „Mein Schwiegervater Otto Jurkat hätte nichts dagegen, dass ich seine Sachen jetzt hier zeige.“ Ruth Jurkat gehört zu den Menschen aus der evangelischen Kirchengemeinde Ratekau, die zum Aufbau einer besonderen Ausstellung beigetragen haben. Auch sie folgte einem Aufruf von Pastorin Anke Dittmann (54) und deren Mann Michael (54). Beide organisierten zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg, der vor 100 Jahren ausbrach, eine Veranstaltungsreihe, zu der auch eine Ausstellung in der Kirche gehören sollte. „Wir wollten den Opfern ein Gesicht geben“, begründet Anke Dittmann ihr Engagement. Die Namen der Opfer sind seit langem bekannt, denn sie sind in Stein gemeißelt und so in der dicken Mauer der Feldsteinkirche verewigt. Anke und Michael Dittmann haben genau gezählt: „Es sind 174 Namen.“ Zusammengetragen wurden Dokumente, Fotos und weitere Exponate, die auf Schicksale von Opfern und Gefallenen aus dem Kirchspiel Ratekau, zu dem auch Orte in der Gemeinde Timmendorfer Strand gehörten, hinweisen. Der Schwiegervater von Ruth Jurkat kam nach dem Krieg gesund nach Hause und lebte im Kreise seiner Familie noch bis zu seinem Tod 1979 in Hobbersdorf. Geblieben an ihn sind Erinnerungen und der kleine, lederne Koffer, den er aus dem Krieg mitbrachte und in dem sein Tagebuch steckte. Ihren Großvater hat Helga Reimer-Baucus (66) niemals kennengelernt. Das macht sie traurig, zumal nicht einmal ihr Vater seinen Vater jemals sah. Hans Hinrich Friedrich Westphal starb im Alter von 24 Jahren und acht Monaten. Helga Reimer-Baucus liest aus der Sterbeurkunde, ausgestellt vom „Königlich Preußischen Infanterieregiment 84“, vor: „Er ist auf dem Schlachtfeld gefallen.“ Näheres ist nicht bekannt. Zu der Zeit war seine Ehefrau Emma Ida Katherina schwanger. „Meine Oma hat mir viel von ihrem Mann erzählt, und wir haben ja auch ein großes Foto von ihm“, so die 66-Jährige. Geblieben sind auch noch die Geburts- und die Taufurkunde sowie das Eiserne Kreuz, das ihm verliehen worden war. „Meine Oma war sehr religiös und unerschütterlich in ihrem Glauben an Gott. Sie war sicher, dass sie ihren geliebten Mann einmal im Himmel wiedersehen wird“, erzählt Helga Reimer-Baucus und zeigt eine große Bibel, in der sie mit ihrer Großmutter viel gelesen hat. Jahrelang lagen sie verborgen — das Liederheft und das Tagebuch des Großvaters von Rüdiger Stooß (76). Als er von dem Aufruf der Pastorin hörte, holte er beides aus dem Bücherregal hervor. Die Erinnerungen an Gustav Johannes Stooß wurden wach. Als er am russischen Fluss Narew starb, war der Vater von Rüdiger Stooß gerade mal vier Jahre alt. Der Großvater hatte schon immer Tagebuch geführt, hatte von seiner beruflichen Zeit als Hoteldiener erzählt. „Nachdem wir das Tagebuch gefunden haben, sprechen wir zu Hause manchmal über den Krieg”, erzählt Rüdiger Stooß. Immer mal wieder nimmt auch Sohn Robert das Tagebuch seines Ur-Großvaters in die Hand und liest. „Wenn von den Kriegstoten des Ersten Weltkrieges berichtet wird, werden oft nur Zahlen genannt. Hier aber werden Einzelschicksale gezeigt, und die sind prägend”, beschreibt Stooß die Ausstellung aus seiner Sicht. Der Volkstrauertag, so Pastorin Anke Dittmann, ist nach wie vor ein wichtiger Tag. Sie will ihn aber nicht als Heldengedenktag verstanden wissen, sondern sagt: „Wir gedenken der Opfer und mahnen zum Frieden. Der Volkstrauertag muss eine Brücke zu heute sein. Wir müssen die Verantwortung ernst nehmen und etwas dafür tun, dass es nie wieder einen Krieg gibt.“ Predigt und Vortrag Der Gottesdienst zum Volkstrauertag beginnt heute in der Ratekauer Feldsteinkirche um 10 Uhr. Pastorin Anke Dittmann wird an den Ersten Weltkrieg erinnern und dabei besonders der gefallenen Soldaten aus dem damaligen Kirchspiel Ratekau gedenken. Die Ausstellung ist bis 13 Uhr geöffnet. Einen Vortrag zum Thema „Kirche im Ersten Weltkrieg“ hält Michael Dittmann am Dienstag, 18. November, ab 19 Uhr in der Kirche. Anschließend kann die Ausstellung besichtigt und bei einem Glas Wein darüber gesprochen werden. Christina Düvell-Veen

Ratekau - Sie geben den Opfern ein Gesicht