Zolgensma gegen Muskelschwund: Hannah aus Ahrensbök geht es besser

Mit beiden Beinen im Leben stehen: Dieses Ziel will die kleine Hannah aus Ahrensbök erreichen. Die Zweijährige, die an Muskelschwund erkrankt ist und mit einem teuren Medikament behandelt wurde, hat in diesem Jahr beachtliche Fortschritte gemacht. Zur Freude ihrer Eltern, die deutlich unbeschwerter Weihnachten feiern können als noch 2019. Der anstrengende Kampf der Familie wird belohnt: Hannah hat sich am Katzen-Kratzbaum hochzogen und späht in die Kuschelhöhle. „Hallo?“, ruft sie fröhlich hinein, die Freude von Kater „Sammy“ hält sich allerdings in Grenzen. Das mag eine alltägliche Szene für die Eltern gesunder Kinder sein – doch für Hannahs Mutter und Vater ist dieser Moment etwas Besonderes. Dass das zweijährige Mädchen allein auf seinen Beinen stehen könnte, schien Anfang des Jahres noch unvorstellbar, weil Hannah an Muskelschwund leidet. Doch der anstrengende Kampf, dem sich die Familie aus Ahrensbök stellt, wird offenbar belohnt. Begonnen hat der schwere Weg vor eineinhalb Jahren, als Hannah und ihre Eltern Jasmin Christophersen und Fabian Kühn eine niederschmetternde Diagnose bekamen: Hannah hat spinale Muskelatrophie (SMA), eine seltene Form von Muskelschwund. Rasch fassten Mutter und Vater einen Entschluss: Hannah sollte Zolgensma bekommen, ein damals in der EU noch nicht zugelassenes Medikament und mit 1,9 Millionen Euro pro „Gabe“ schwindelerregend teuer. Die Familie startete im November 2019 einen Spendenaufruf, ihr Schicksal bewegte die Menschen weit über Ahrensbök hinaus. Zolgensma: Kein Wundermittel gegen SMA – aber doch ein Wunder für die Eltern: Schließlich erklärte sich die Krankenkasse bereit, die Kosten für die Behandlung zu übernehmen. Am 3. März 2020, sechs Tage vor Hannahs zweitem Geburtstag, erfolgte die „Gabe“ in der Berliner Charité. „Zolgensma ist kein Wundermittel“, erklärt Jasmin Christophersen. „Eine Spritze, und unsere Tochter ist geheilt: So funktioniert es nicht.“ Doch Hannah habe seither deutlich an Kraft gewonnen, robbe viel umher, drücke sich in den Vierfüßlerstand hoch – und versucht eben, sich hinzustellen. „Vor einem Jahr waren ihre Beine noch wie Pudding“, sagt Hannahs Mutter. „Und auch, wenn sie keine Wunderspritze bekommen hat, ist das für uns doch ein Wunder.“ Von Hannahs Erfolgen berichten die Eltern regelmäßig auf der Facebook-Seite „Savehannahsmuscles“ (auf Deutsch etwa: „Rettet Hannahs Muskeln“). Dort ist beispielsweise in einem Video zu sehen, wie Hannah sich an einer Sofalehne aufrichtet und stolz erklärt: „Sieh mal, was ich kann.“ Hunderte Reaktionen reichen von Rührung bis Begeisterung. Hannah übt intensiv – und mag besonders die Reittherapie: Die Fortschritte hat sich Hannah mit ihren Eltern hart erarbeitet. Weiterhin besucht sie dreimal wöchentlich ihre Physiotherapeutin, absolviert zweimal täglich zu Hause ihre Übungen, steht außerdem dreimal täglich auf der Vibrationsplatte und zweimal täglich für je eine halbe Stunde im „Steh-Trainer“. Vor den Corona-Einschränkungen standen zudem ein bis zwei Besuche pro Woche im Schwimmbad auf dem Programm – und Hannahs Lieblingstraining ist derzeit die wöchentliche Reittherapie. „Hannah ist superfleißig und diszipliniert“, freut sich ihr Vater Fabian Kühn. Beim Zelten im Sommer konnte das kleine Mädchen aber auch einmal eine trainingsfreie Woche genießen. Das sei auch wichtig, sagen die Eltern. Zu Hannahs Entwicklung gehören auch traurige Momente. Weil sie eine rasche Auffassungsgabe hat, weiß sie genau, was sie von anderen Kindern unterscheidet. Als ihre Mutter ihr einmal sagte, wie stolz sie auf ihre Tochter sei, erwiderte Hannah: „Mama, ich kann aber nicht laufen.“ Das schmerze, berichtet Jasmin Christophersen – doch dann gebe es mit dem nächsten Erfolgserlebnis wieder die nächste Belohnung. Ähnliches schilderten die Eltern anderer Kinder, die ebenfalls von SMA betroffen sind und mit Zolgensma – das mittlerweile in der EU zugelassen ist – behandelt wurden, sagt Fabian Kühn: „Alle haben tolle Fortschritte gemacht, und wir hoffen natürlich, dass die Forschung weiter voranschreitet.“ In ihrer Spielküche kann Hannah alles mit dem Mini-Rollstuhl erreichen: Im Ahrensböker Zuhause der Familie dreht sich alles um Hannah und den Einsatz für ein selbstbestimmtes Leben des Mädchens. Ihre Eltern lassen nichts unversucht, um Hannah eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Mitten im Wohnzimmer steht zum Beispiel eine schicke Spielküche, von Fabian Kühn so konstruiert, dass Hannah mit ihrem Mini-Rollstuhl gut heranfahren kann. Dabei geht es munter zur Sache: Hannah holt Eier aus dem Kühlschrank, schiebt eine Pizza in den Ofen und kocht vor allem eifrig Kaffee und Tee, wobei sie häufig spielt, dass die Tasse überläuft – ein großer Spaß und eine große Aufregung. Den ultraleichten Mini-Rollstuhl haben Hannahs Eltern von einem Teil des Spendengeldes für Hannah angeschafft. 95 000 Euro sind zusammengekommen, die von der Deutschen Muskelstiftung verwaltet werden. „Den meisten Bedarf übernimmt aber die Krankenkasse“, meint Fabian Kühn. Dennoch denken er und seine Frau oft an „die vielen großartigen Menschen, die uns mit ihren Taten und Worten so selbstlos unterstützt haben“. Lesen Sie auch Nach teurer Behandlung: Wie Hannah weiter um ihre Muskeln kämpft Charité-Ärzte behandeln Hannah aus Ahrensbök mit Zolgensma Wer hilft Hannah? Kleinkind aus Ahrensbök braucht teures Medikament Das Weihnachtsfest 2019 war geprägt von Sorgen, da damals noch keine Klinik die Zusage für eine Behandlung Hannahs gegeben hatte. „Jetzt schauen wir mit einer unglaublich großen Dankbarkeit auf das vergangene Jahr zurück“, sagen Jasmin Christophersen und Fabian Kühn. Anlässlich des Weihnachtsfestes 2020 können sie ihren Blick aber auch zugleich hoffnungsvoll nach vorn richten – und auf Hannah, die sich vielleicht an den Feiertagen wieder am Katzen-Kratzbaum hochzieht und ein fröhliches „Hallo?“ in die Kuschelhöhle hineinruft. Von Sabine Latzel